Gottesdiensträume auf Zeit

Bauten der Kaiserzeit waren ordentlich und dienten später als Pfarrsaal

AUGSBURG – Ab dem späten 19. Jahrhunderts stand die katholische Kirche vor eine Situation, die sie vorher nicht gekannt hatte: Viele Menschen strömten in die Städte, um in der Industrie arbeiten zu können. Ganze Stadtviertel entstanden binnen weniger Jahre aus dem Nichts. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es ähnliche Verhältnisse noch einmal, als die Heimatvertriebenen in den Westen kamen. Für die Neuzugezogenen fehlten Seelsorge und Kirchenbauten. Man fand eine Lösung: Notkirchen.

Beispiel St. Simpert in Augsburg: Die Pfarrei entstand 1924 im Textilviertel, zunächst als Seelsorgebezirk von St. Max, weil viele Arbeiter der großen Textilfabriken hierher gezogen waren. Zu Weihnachten 1924 wurde eine Notkirche geweiht. Es war laut Diözesankonservator Michael Schmid eine einfache Halle auf einem gemauerten Sockel ohne Turm. Im Inneren wurde mit einer Holzkonstruktion ein Gewölbe nachgeahmt. Die gezackten Säulenkapitelle wiesen auf expressionistische Einflüsse hin.

In der Bombennacht des 25. und 26. Februar 1944 wurde diese Kirche zerstört. 1947 wurde eine zweite Notkirche geweiht. Bei ihr wurde nun auch auf die Holzdecke verzichtet. Einen Turm gab es wieder nicht, aber einen Dachreiter für ein kleines Geläut. Seit 1974 hat St. Simpert nun eine richtige Kirche, die stark von der Moderne geprägt ist: der Baustoff Beton, verarbeitet wie eine Bauskulptur, reliefartig gestaltete Wände, die Anmutung eines Industriebaus, wie er ins Textilviertel passte.

Dass überall in der Diözese wie auch in ganz Deutschland bis in die 1960er Jahre hinein Notkirchen gebaut wurden, hat für Michael Schmid zunächst damit zu tun, dass zur Finanzierung der Kosten immer auf eine Kirchenstiftung zurückgegriffen wurde. Die Pfarreien wurden zwar vom Bistum unterstützt, mussten aber doch große Teile der Summe auf diese Weise selbst aufbringen. Das konnte viele Jahre dauern. Doch wo sollten sich die Gläubigen bis dahin versammeln? Man kam also auf die Idee, zunächst eine günstige Übergangslösung zu schaffen, bis die Mittel für den Bau einer aufwendigen Kirche reichen. Zur Not wurden Gottesdienste auch in Schulhäusern oder Wirtshaussälen gefeiert.

Notkirchen wurden zuerst in der evangelischen Kirche gebaut. Der Architekt Otto Bartning schuf in der Nachkriegszeit sogar Kirchenbauten von der Stange. Es gab drei Modelltypen, was die Baukosten nochmals drückte. In der Kaiserzeit hatte das Geld zunächst keine so zentrale Rolle gespielt. Die deutsche Wirtschaft florierte. Das spiegelte sich auch bei den Pfarreien und den Notkirchen wider. „Das waren sehr ordentliche Bauten, die später etwa als Pfarrsaal weitergenutzt werden konnten“, erläutert  der Diözesankonservator. In der Inflation und Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich das. Teilweise dienten nun sogar Holzbaracken als Notkirchen, die nach wenigen Jahren verschlissen waren. Das hatte aber in seinen Augen auch sein Gutes: Die Gemeinden gewöhnten sich so nicht an ihre Notkirche und hatten einen beständigen Antrieb, mit dem richtigen Kirchenbau zu beginnen.

Eine hölzerne Notkirche gab es unter anderem in St. Canisius im Hochfeld und in St. Wolfgang im Spickel. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Barackenkirchen in Neusäß, Königsbrunn, Dillingen und in St. Michael in Kempten errichtet. In einigen Fällen wurde parallel zu ihrem Bau schon mit der Planung der richtigen Kirche begonnen.

Die stabil gebauten Notkirchen wurden dagegen mitunter sogar versetzt und ein zweites oder gar ein drittes Mal verwendet. Das war etwa so in St. Johannes Baptist in Göggingen. Diese Notkirche hatte zuvor bereits in der Pfarrei Zum guten Hirten im Universitätsviertel gute Dienste geleistet. In Göggingen ist der Bau bis heute stehen geblieben. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg gab es laut Schmid aber auch das Phänomen, dass Kirchenbauten, die den Krieg überstanden hatten, zur Notkirche wurden.

Ein extremes Beispiel ist die damals schwer beschädigte Kirche von Heilig Kreuz in Augsburg: Man baute zunächst die Sakristei wieder auf und hielt dort in höchst beengten Verhältnissen Gottesdienste ab. Häufiger wichen Pfarreien auf Pfarrsäle aus, wenn die Kirche nicht zur Verfügung stand. „Das gibt’s auch heute noch“, sagt Schmid.

Ältere Mitglieder der Pfarrei St. Simpert erinnern sich noch lebhaft an ihre Notkirche von Architekt Albert Kirchmayer, die bis 1974 bestand; manche finden sie schöner als die heutige Kirche. Michael Schmid verteidigt jedoch den modernen Entwurf: Er sollte zum Ausdruck bringen, dass die Kirche sich mitten in der Gesellschaft befindet – ein Gedanke des Zweiten Vatikanischen Konzils. 

Der Kirchenraum wurde bewusst so gestaltet, dass er nicht anders als die Aula einer Schule oder ein Gerichtssaal aussieht. Trotzdem sind Altar, Tabernakel und Ambo im Raum hervorgehoben, und es gibt wirkungsvoll platzierten religiösen Schmuck. Der große Kirchenraum mag kühl wirken, wenn die Plätze nicht vollbesetzt sind, aber vielleicht würde es schon helfen, so Schmid, wenn sich die Gottesdienstbesucher in den vorderen Reihen um den Altar versammeln würden. Andreas Alt

11.09.2019 - Architektur , Bistum Augsburg