Kunstexperiment in St. Wolfgang

Inspirationen gezeichnet

REGENSBURG – Anlässlich des Jubiläumsjahres „100 Jahre Pfarrei St. Wolfgang in Regensburg“ hat der Künstler Tom Kristen in der Pfarrkirche St. Wolfgang ein ungewöhnliches Kunstexperiment durchgeführt. Er begab sich in dem Gotteshaus für mehrere Tage in Klausur, um dort seinen Inspirationen folgend zu zeichnen. 

„Tom Kristen bringt seine In­spiration und Ideen zu Papier, die er durch den Raum, durch die Besucher empfängt“, hebt Dr. Hermann Reidel hervor, der mehrere Jahrzehnte als Bischöflicher Konservator für die Kunstsammlungen im Bistum Regensburg wirkte und seine Kompetenzen in die Projekte der Pfarrei St. Wolfgang einbringt. 

Der Künstler zeichnete im Seitenschiff der Kirche an einem kleinen Holztisch sitzend. „Tom Kristen versuchte eine zeichnerische Meditation, ein Experiment über das Entstehen, Vergehen, über Hoffnung und Zuversicht“, erklärt dazu Prälat Alois Möstl. Kristen bediente sich dabei einfachster Arbeitsmittel, wie Tusche, Pinsel und Bleistift. Es entstanden Pinselzeichnungen als verdichtete piktogramm­artige Notationen in der Auseinandersetzung mit sich selbst, dem Gotteshaus und der gegenwärtigen Notwendigkeit zur Reduktion, Stille und Abgeschiedenheit.

„Zeichnen ist eine andere Art von Sprache. Es ist die einfache, ursprüngliche und authentische Praxis, um sich einer Kommunikation zu bedienen, die nicht auf Worten beruht. Daher ist sie universell und geradezu mythisch – seit jeher, schon als die ersten Menschen Tiere an Höhlenwände zeichneten, von denen ihr Überleben abhing“, sagt Kristen. Im Grunde sei alles Zeichnung. „Was sonst ist ein Tanz, ein Gehen am Strand? Hierbei zeichnen unsere Füße sogar Linien in den Sand. Deshalb fiel die Wahl auf Tusche, Pinsel und Bleistift.“

Das Projekt war auch für Kristen eine ungewöhnliche Herausforderung: „Sich selbst zurücknehmen, so wie es auch die Umstände der Pandemie verlangen, im Rahmen einer ganz leisen Aktion, statt 40 Tagen 40 Stunden sich dem Raum aussetzen. Was macht der Raum mit mir? Wie beeinflusst er meine Ideen, gibt mir welchen Input?“ Der Künstler hatte das Vorhaben nur insoweit geplant, als dass er sich vornahm, sich in den Mitteln und Möglichkeiten bewusst zu beschränken. „Eine Kirche ist kein Atelier oder eine Werkstatt. Daher stand vielmehr ein Experiment im Vordergrund, wie Besinnung, Stille, der Kirchenraum und die Zeit das zeichnerische Tun beeinflussen“, sagt Kristen.

Einem Künstler seien natürlich in Abgeschiedenheit stattfindende kreative Schaffensprozesse nicht völlig fremd. „Die tägliche Arbeit im Atelier ist einer Meditation durchaus ähnlich“, sagt Kristen. Überhaupt sei seine Grundvoraussetzung für Künstler, das Alleinsein aushalten zu können. 

Im Kirchenraum von St. Wolfgang war natürlich das Thema Glaube sehr präsent. Kristen sagt dazu: „Kreativität ist für mich manchmal auch ein Gebet, da der künstlerische Prozess im Kleinsten an den Schöpfungsmythos erinnert. Beginnend mit ‚Anfang‘ und ‚leer‘ entsteht durch kreatives Handeln ein Sehen, aus Erkunden wird Gestalten und ein Sinnstiften ... Daraus schöpfe ich schon immer einen Großteil meines Optimismus, Zuversicht, Hoffnung, Glück und vor allem auch Vertrauen in die Welt. Der in der Genesis fünfmal wiederholte Satz: ‚Und Gott sah, dass es gut war‘, ist für mich eine Aufforderung, die Welt eingehend zu betrachten und zu versuchen zu erkennen.“

Das ursprünglich für die Dauer von fünf Tagen geplante Kunstexperiment musste allerdings aufgrund der Corona-Pandemie verkürzt werden. Tom Kristen machte dabei eine ganz besondere Erfahrung: „Da mir am Ende der Zeichenwoche in St. Wolfgang vom Gesundheitsamt zwei Wochen Quarantäne verordnet wurden, hatte ich Zeit, im Atelier die Schubläden zu öffnen und Ordnung zu schaffen. Dabei entdeckte ich Arbeiten, deren Thema und Inhalt durch die Pandemie auf einmal sehr gewandelt werden – ganz anders als ich sie noch vor einem Jahr sah. Die plötzliche Dynamik der geänderten Sichtweise auf die Arbeiten hat mich sehr berührt. Auch wenn es mittlerweile abgedroschen klingt, und auch weil gerade pragmatisches Handeln erforderlich ist, bleibe ich in Gottvertrauen Optimist: Wenn wir es wirklich schaffen, uns danach viel zu verzeihen, werden wir mit neuer Hoffnung und neuen Einsichten ausgerüstet sein, zukünftigen Herausforderungen gestärkt zu begegnen.“

Tom Kristen hat in der Diözese Regensburg mehrere Ausschreibungen für Altarraumgestaltungen gewonnen, vor allem die Gestaltung der neuen Hauskapelle bei den Regensburger Domspatzen. Der Künstler stammt aus Straubing und lebt heute in der Nähe von Landsberg am Lech. Bei seiner meditativen Zeichen-Klausur in St. Wolfgang verwendete Kristen handgeschöpftes Papier und Tusche, die er selbst hergestellt hat, nämlich Walnuss- und Eisengallus-Tinte. Auch indem Kristen mit intensiven Naturfarben arbeitete, die in einfachen Schwarz- und Brauntönen wirken, wurde die Reduktion auf das Wesentliche deutlich.

Angelika Lukesch

30.03.2021 - Bistum Regensburg