Predigt von Bertram Meier, Apostolischer Administrator, am Karfreitag 2020

Stärker als das Leid ist die Liebe

„Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab“ (Joh 3, 16). Es gibt Momente, da geht es mir schlecht. Ich fühle mich allein, unverstanden, enttäuscht. Keiner scheint Anteil zu nehmen an dem, was mich bedrückt. was mir Sorgen macht, was mir schwer fällt. Aber ich muss doch gut dastehen vor den anderen und so versuche ich, es dem Münchhausen nachzumachen und mich am eigenen Schopf aus dem Sumpf herauszuziehen. Aber der Versuch scheitert kläglich.

Da kann die Angst aufkommen, eigentlich ganz allein zu sein, niemanden zu haben. Eine lähmende Angst, die das Herz schwer macht. Aber gerade in diesen schwierigen Momenten habe ich erfahren, welche Freude und welches Glück es bedeutet, dass es die anderen gibt, Freunde, Menschen, die es gut mit mir meinen, die für mich da sind, denen ich erzählen kann und die mir zuhören, die mich aufrichten, die nicht nur die Glanzpunkte, sondern auch die Schattenseiten meines Lebens kennen und mich gerade so annehmen. Dass mir das geschenkt wird, lässt mich erkennen: Leichter wäre es, nichts zu haben, als niemanden zu haben.

Die Nähe, das Verständnis, die Güte und Liebe, die Menschen einander schenken, können uns die Nähe dessen spüren und erfahren lassen, der uns annimmt und aufrichtet, der zu uns sagt: „Eine größere Liebe hat niemand, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15, 13). Der das nicht nur sagt, sondern es lebt.

Als Jesus den Tod auf sich zukommen sieht, als er beim jubelnden Hosanna schon das verhetzte: „Weg, ans Kreuz mit ihm!“ ahnt, da spricht er in den Abschiedsreden an die Jünger oft von seinen Freunden.

Wer sind die Freunde Jesu?

Die Antwort kann unterschiedlich ausfallen:

- Die Jünger, Petrus, Johannes und die anderen.

- Die Menschen, die er geheilt hat.

- Die Sünder und Zöllner, die seine Liebe spüren und durch ihn Annahme und Verzeihung erfahren, und dann die vielen anderen. 

Manchmal während seines Lebens scheint Jesus von ganzen Scharen von Freunden umgeben. Alles drängt sich um ihn und sucht seine Nähe. Aber als es ihm an den Kragen geht, als die Lage brenzlig wird und das Zu-ihm-Gehören etwas kostet, unter Umständen sogar das Leben, da lichten sich die Reihen der Freunde.

Und was tut Jesus?

Als er im Garten Getsemani dem begegnet, der ihn gerade für Geld verraten hat, da rechnet er nicht noch schnell mit ihm ab. Jesus macht Judas nicht fertig.

Er nennt ihn Freund. „Freund, dazu bist du gekommen?“ (Mt 26, 5), sagt Jesus zu Judas nach dem verräterischen Kuss. Das ist keine Ironie, keine getarnte Verbitterung, das ist Jesus, wie er leibt und lebt.

„Eine größere Liebe hat niemand, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde.“

Den wahren Freund erkennt man in der Not, sagen wir. Was für Jesus Freundschaft und Liebe heißt, erkennen wir am Kreuz.

Er macht keinen Bogen um unser Elend, unsere Angst, unsere Armseligkeit und Sterblichkeit. Wo wir selbst den geliebtesten Menschen allein den Weg gehen lassen müssen, da ist uns Jesus vorangegangen und hat uns durch sein Sterben die letzte Einsamkeit genommen. Er ist für uns gestorben, damit wir im kleinen und großen Sterben des Alltags nicht allein bleiben. Das soll auch denen Trost sein, die darüber klagen oder sich sogar selbst Vorwürfe machen, wenn sie einen guten Freund oder Verwandten in der Intensivstation oder beim Sterben allein lassen müssen. Jesus ist da – und Jesus bleibt da. Der Schmerzensmann mit Dornenkrone ist stärker als Corona!

Deshalb soll keiner mehr sagen müssen: Ich habe niemand. Er ist für uns gestorben, damit wir mit ihm und bei ihm ewig leben; damit unser Leben miteinander die Tiefe des göttlichen Lebens gewinnt; damit wir erkennen, wo Freundschaft und Liebe ihr göttliches Maß und Ziel haben. „Eine größere Liebe hat niemand, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde.“ Das feiern wir heute am Karfreitag. Ihr seid meine Freunde, sagt uns Christus am Kreuz, jetzt in dieser Stunde, die seine große Stunde ist. Seine Stunde für uns. Machen wir unser Herz weit, damit es auch unsere Stunde wird für ihn.

Eines dürfen wir nicht bagatellisieren; in diesem Jahr wird es uns besonders bewusst: Es gibt so viele Gekreuzigte auf dem Weg zu dem Einen – in der großen und kleinen Welt, in unseren Familien, im Freundeskreis, in den Gemeinden. Wir spüren unsere Ohnmacht  und fühlen uns wie die klagenden Frauen, die den Kreuzweg Jesu säumten, aber nichts tun konnten. So ist es ist auch für uns Christen schwer, das Leid, das die eigenen Pläne jäh durchkreuzt, anzunehmen und zu tragen. Noch schwerer fällt es, diesen Kreuzen einen Sinn abzugewinnen. Wenn ich mir solche Gedanken mache, dann erinnere ich mich an meine Zeit am Germanicum. Wir Studenten schenkten unserem Spiritual – einem Jesuiten - eine Kletterpflanze zum Geburtstag. Er stellte sie auf den Fenstersims, und mit der Zeit fing die Pflanze gleichsam zu predigen an: Nach und nach rankte sie sich am Kreuz empor. „Wachsen können“ am Kreuz – das ist die Predigt der Kletterpflanze: ein Bild für unser Leben, das dem Kreuz Corona nicht ausweichen kann. Wir werden unser Kreuz nicht immer stolz auf der Brust tragen oder es uns ans Revers stecken, sehr oft müssen wir es auf dem Rücken schleppen und schleifen. Was das heißt, spricht ein Gebet aus, das in New York, einer der zurzeit am meisten gepeinnigten Städte, im Wartesaal eines Krankenhauses zu lesen ist:

Herr, ich habe dich um Kraft gebeten, um Erfolg zu haben;

du hast mich schwach werden lassen, damit ich gehorchen lerne.

Ich habe dich um Gesundheit gebeten, um große Dinge zu tun;

ich habe die Krankheit erhalten, um Besseres zu erledigen.

Ich habe dich um Reichtum gebeten, um glücklich zu sein;

ich habe die Armut erhalten, um weise zu werden.

Ich habe dich um Macht gebeten, um von den Menschen geschätzt zu werden;

ich habe die Ohnmacht erhalten, um Verlangen nach dir zu verspüren.

Ich habe dich um Freundschaft gebeten, um nicht allein leben zu müssen;

du hast mir ein Herz gegeben, um all meine Brüder und Schwestern zu lieben ...

Ich habe nichts erlangt von dem, was ich erbeten hatte;

ich habe alles erlangt, was ich erhofft hatte.

Fast gegen meinen Willen sind meine ungesagten Gebete erhört worden.

Ich bin der Beschenkteste aller Menschen.

Gekreuzigter Herr Jesus Christus, ich danke dir. Amen.

14.04.2020 - Bistum Augsburg