Geistlicher Impuls von Bischof Dr. Bertram Meier beim Abendgebet zum Empfang der DBK für die Partner im christlich-islamischen Dialog am 17. März 2023 in Stuttgart

"Als Geschwister in unserem gemeinsamen Haus, der „Mutter Erde"

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben an den einen Gott,

liebe Freundinnen und Freunde im christlich-muslimischen Dialog!

„Höchster, allmächtiger und guter Herr, Dein sind der Lobpreis, die Herrlichkeit und Ehr.“ Das ist der Kehrvers des Sonnengesangs des hl. Franz von Assisi (ungefähr 1181 geboren, 1226 gestorben). Diesen Kehrvers haben wir zu Beginn unseres Abendgebets gemeinsam gesungen. Im Zentrum steht das Lob des einen Gottes, des Schöpfers von Himmel und Erde, wie es im Apostolischen Glaubensbekenntnis heißt. Franz von Assisi (auch bekannt als Franziskus), der im 12. Jahrhundert in Italien lebte, stellt in den Strophen seine Schöpfungs- und Naturmystik in ein ganz besonderes Verhältnis zu sich selbst: Sonne, Mond, Sterne, Wind, Feuer, Wasser, Erde, der Mensch und sogar der Tod – und noch vieles mehr – sind für ihn geschaffen von dem einen Gott, der auch ihn als Menschen, als Franz, geschaffen hat. Deshalb loben sie mit ihm den gemeinsamen Schöpfer und gelten ihm als Geschwister.

Auch im Text von Yunus Emre (ungefähr 1240 geboren und 1321 gestorben) klingt ein solches Lob an. Die beiden waren fast Zeitgenossen, sie haben sich um 14 Jahre verpasst, auch örtlich passte es nicht ganz: Die kleine umbrische Stadt Assisi in Italien und das mittelanatolische Gebiet der heutigen Türkei liegen recht weit auseinander. Doch der Mittelpunkt ihrer Dichtung ist der gleiche, wenn es in der letzten Strophe erklingt: „Mit Dank und Preis und Lobeswort, mit ‚Gott ist Einer‘, höchstem Hort, mit Dank und Preis und Lob will ich Dich rufen, Herr!“ Auch für Yunus Emre geht die Anrufung Gottes hinaus über den Menschen. Berge, Steine, Menschen: Sie alle leben in Bezug zu dem einen Gott.

Franz von Assisi lobt mit der Schöpfung den Herrn, Yunus Emre ruft ihn gemeinsam mit der Schöpfung an. Beide sind sie Geschöpfe eben dieses Schöpfers, des einen Gottes. In unserem heutigen Abendgebet treffen nun die Schöpfungs- und Naturmystik eines christlichen und eines muslimischen Dichters auf einen Evangelientext, der stark von der hebräischen Bibel geprägt ist.

Jesus wird gefragt, welches Gebot das erste von allen sei. Und Jesus gibt eine doppelte Antwort: „Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und deiner ganzen Kraft. Als Zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.“

Geht das nicht bestens zusammen mit dem Schöpfungslob des Franz von Assisi und des Yunus Emre? Sie haben diese beiden Gebote quasi internalisiert: Als seine Geschöpfe loben sie den Schöpfer – in Beziehung zu ihren Geschwistern, zu der von Gott so wunderbar gestalteten Welt. Doch auch den beiden werden das Lob und die Anrufung Gottes nicht immer leicht über die Lippen gegangen sein, genauso wie uns, wenn wir konfrontiert sind mit dem Unheil.

Da sind die menschengemachten Katastrophen, wie der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der uns seit über einem Jahr beschäftigt. Beten wir gemeinsam für einen gerechten Frieden! Da sind aber auch die Naturkatastrophen. Hier denke ich heute insbesondere an das schreckliche Erdbeben, das so viele Menschenleben gefordert hat. Auch unter uns sind Menschen, deren Familienangehörige und Freunde schwer getroffen wurden. Unsere Gedanken und Gebete sind bei den vielen Todesopfern und den Hinterbliebenen, bei den Verletzten und Notleidenden.

Wie passen die Gesänge eines Franz von Assisi und eines Yunus Emre zur Erfahrung des Leids in der Welt? Können wir es unter diesen Umständen überhaupt wagen, ein Loblied auf den Schöpfergott zu singen? Dies ist eine Frage, die uns – Christinnen und Christen, Musliminnen und Muslime – als Geschwister im Glauben miteinander verbindet.

Unsere beiden religiösen Traditionen kennen eine starke Frau, die wie keine andere auf den Schöpfergott vertraut hat: Maria, die Mutter Jesu. Auch Maria stand vor einer schweren Zeit: eine Schwangerschaft, die ihr der Engel verkündete – aber, ohne dass sie verheiratet war. Unerhört damals! Trotzdem hat sie sich auf dieses Wagnis eingelassen. Sie bewies ihr Vertrauen in Gott, sie spürte, dass Gott größer ist als menschliches Bedenken. Ihr ganzes Herz, ihre ganze Seele wurde zum Lobpreis.

Auch in diesem Jahr findet der Empfang der Deutschen Bischofskonferenz für die Partner im christlich-islamischen Dialog wieder in zeitlicher Nähe zum Fest Mariä Verkündigung statt. Maria kann Christinnen und Christen wie auch Musliminnen und Muslimen ein Vorbild sein, in schweren Zeiten Mut zu fassen und auf Gott zu vertrauen. Und aus diesem Gottvertrauen schöpfen wir die Kraft, gemeinsam aufzustehen für Frieden und Gerechtigkeit, für Nächstenliebe und die Bewahrung der Schöpfung.

Lassen wir uns von Maria, aber auch von Franziskus und Yunus Emre inspirieren. Loben wir den einen Gott mit Worten und mit Taten, als Geschwister in unserem gemeinsamen Haus, der „Mutter Erde, die uns ernährt, erhält und Früchte trägt“, als Geschöpfe des einen Gottes.

Amen.

21.03.2023 - Bischöfe , Gebet , Islam