Predigt des Bischofs Bertram Meier in der Pfarrkirche Heilig Geist in Neuburg/Donau an Pfingsten 2021

„Wir haben den Geist in die Flasche gesperrt“

Inmitten der Tretmühlen, in die uns der Alltag einspannt, lohnt es sich gelegentlich zu fragen: Was belebt mich eigentlich? Wo spüre ich, dass ich nicht nur funktioniere, sondern lebe? Was begeistert mich, was reißt mich mit, was lässt mein Herz höherschlagen? Was inspiriert mich?

Ich denke, dass uns dabei Erinnerungen an Ereignisse in den Sinn kommen, die uns über das begrenzte Ich hinausgeführt und den Zugang erschlossen haben in eine Welt, die das Greifbare und Machbare übersteigt. Solche Ereignisse mit "esprit" sind nicht produzierbar, sie sind ein Geschenk des Himmels. Auch wenn es um die Deutung von Pfingsten geht, stoßen psychologische Methoden und demagogische Tricks an ihre Grenzen. Die pfingstliche Massenkundgebung wurde nicht von den Jüngern organisiert, sondern vom Geist bewegt; kein menschlicher Shitstorm, sondern ein Sturm des Heiligen Geistes. Pfingsten ist ein Tag, den der Herr gemacht hat.

Wir kennen das: Ich sitze an einer Aufgabe und komme nicht voran. Auf einmal passiert es: "Mensch, da geht mir ein Licht auf.“ Der Moment ist wie eine Erleuchtung. Diesen Augenblick kann man nicht machen. Das hat man nicht in der Hand, wie wenn man auf den Knopf drückt und das Licht anschaltet. Es leuchtet auf, wie von einer höheren Energiequelle her. Eine Redewendung sagt: "Etwas blitzt auf - eine Idee, ein Bild". Blitzartig wird es uns klar in einer Beziehung: Aus Sympathie wird Zuneigung, aus Freundschaft Liebe. Das geht durch Mark und Bein; es reißt uns vom Stuhl: ein Aufschwung zu Größerem, Unbedingtem, Absolutem. Wir sind nicht mehr zu bremsen. Wir wachsen über uns hinaus, geraten außer uns: Ekstase. Der Sinn für die Wirklichkeit weitet sich, neue Horizonte tun sich auf. Es gibt noch ganz andere Möglichkeiten als unsere oft engen und kleinkarierten Grenzen. Nicht zuletzt gibt es die Möglichkeiten Gottes mit uns. Haben wir schon einmal darüber nachgedacht, was Gott aus uns machen könnte, wenn wir ihn nur mehr mit uns und in uns schaffen ließen?

Das Fest Gottes ungeahnter Möglichkeiten ist Pfingsten. Die trostlose Zeit ohne den Geist hat ein Ende, die lähmende Geistlosigkeit ist vorbei. Grenzen werden gesprengt, neue Lebenshorizonte aufgerissen, Leute aus allen Völkern und Nationen finden zusammen in dem einen internationalen und multikulturellen Treffen, bei dem sich am 50. Tag nach Ostern Menschen aller Sprachen in Jerusalem verstehen, ohne dass es Simultanübersetzungen gibt. Der Heilige Geist übersetzt die Worte, die kein großer Redner vor dem Herrn ausspricht, sondern ein gewisser Simon mit Spitznamen Petrus - ein Fels, der weich ist wie Butter. Was der erste Pfingstprediger vom Stapel lässt, ist kaum zu glauben. Kurz zuvor noch hat er sich hinter Mauern eingeschlossen, heute staunt man über die Kraft seiner Worte: “So spricht Gott: Ich werde von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure jungen Männer werden Visionen haben, und eure Alten werden Träume haben. Auch über meine Knechte und Mägde werde ich von meinem Geist ausgießen in jenen Tagen, und sie werden Propheten sein”.

Mit anderen Worten: Frauen und Männer, Junge und Alte, Arme und Reiche werden von der verändernden Kraft des Geistes “inspiriert”; sie wachsen über sich selbst hinaus zu einer neuen Gemeinschaft zusammen, die Kirche heißt. Heiliger Geist, das bedeutet nicht uniformistische Gleichschaltung. Die Menschen sind verschieden und das ist gut so. Jede und jeder ist anders, keine Kopie, sondern ein Original. Und doch: So unterschiedlich wir auch sind, wir verstehen uns. Das schlägt ein wie ein Blitz: verschieden und doch eins, dieses Volk von Brüdern und Schwestern in der Einen Welt, “katholische” Kirche im wahrsten Sinn des Wortes. 

Liebe Schwestern und Brüder! Mit Pfingsten ist das nicht nur eine fromme Anrede in der Kirche, während man draußen Damen und Herren sagt. Wer Schwester und Bruder sagt, verpflichtet sich füreinander. Spürt man davon? Oder ist der Name “Mitbruder” vergleichbar mit dem Ausdruck “Parteifreund”? Es wäre schade. 

Hören wir noch einmal in die Pfingstpredigt des Petrus hinein! Von Träumen und Visionen ist da die Rede. Was wissen die Jungen von den Visionen der Alten, was wissen die Alten von den Visionen der Jungen? Kennen die Männer die Träume der Frauen und die Frauen die Träume der Männer - nicht nur auf einem ganz bestimmten Gebiet? Tauschen wir uns darüber aus als Brüder und Schwestern? Oder reden wir aneinander vorbei? Wer meint, dass im 21. Jahrhundert eine “Männerkirche” und eine “Frauenkirche” nebeneinander oder gar gegeneinander etwas bewirken könnten, begreift nicht, was die Stunde geschlagen hat. Nur miteinander sind wir katholisch, gemeinsam sind wir stark, als Schwestern und Brüder eine wahrhaft geschwisterliche Kirche.

Petrus schwärmt von Träumen und Visionen. Ist er denn von allen guten Geistern verlassen? Träume sind Schäume, lautet unsere Devise. Mehr nicht? Für mich können Träume auch Inspirationen des Geistes sein. Und wer Visionen ernstnimmt, meint nicht irgendeine Art Fernsehen in die Zukunft. Visionen sind wie der Durchblick in einer schwierigen Situation. Die wahren Visionen kommen nicht aus der Neugier derer, die am liebsten vor Gottes Haustür verschämt ins Schlüsselloch schauen würden und dafür Privatoffenbarung sagen. Der Visionär ist schüchtern und nüchtern; zugleich ist er begeistert und entschlossen. Denn er blickt über den Tag hinaus. Im Nebel der Zeit hat er eine Vorausschau auf den nächsten Schritt. Wer Visionen hat, ist weitsichtig.

In der Politik ist so manches gefragt: Verhandlungsgeschick, Diplomatie, Ellbogen, Machtinstinkt, Krisenmanagement. Aber gehören Visionen auch dazu? Einer der bekanntesten Politiker des 20. Jahrhunderts, Helmut Schmidt – Bundeskanzler von 1974 bis 1982 – soll einmal gesagt haben: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“ Das wird ihm jedenfalls in den Mund gelegt. Vierzig Jahre später erinnert er sich und rudert etwas zurück: „Da wurde ich gefragt: Wo ist Ihre große Vision? Und ich habe gesagt: Wer eine Vision hat, der soll zum Arzt gehen. Es war eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage.“ (ZEIT-Magazin, 4.3.2010) Ich finde: Die Frage war nicht dusselig. Hand aufs Herz: Kennen wir Visionäre – unter Politikern, unter Künstlern, unter Wissenschaftlern? Gibt es heute Visionäre – Frauen und Männer – mit Perspektiven für die Zukunft der Kirche? Wir bräuchten sie dringend: Visionäre, weniger Lobbyisten, die nur ihre persönlichen Interessen vertreten und meinen, die eigene Meinung durchdrücken zu müssen. Synodale Kirche geht geistlich: sie hört gut zu, wägt besonnen ab und unterscheidet die Geister, die die Entscheidung reif ist. 

Manchmal frage ich mich: Hast du als Bischof eigentlich noch Träume und Visionen? Gibt es in der Kirche von Augsburg und darüber hinaus Raum für gemeinsame Ziele? Hast Du neue, frische Ideen oder greifst Du auf alte Konserven zurück? Bist Du angekommen im Dienst als Bischof oder agierst Du weiterhin als Administrator, als Verwalter der Diözese? Die Fragestellung dürfen wir weiten auf alle, die wir uns in der Kirche einbringen: Erschöpft sich mein Interesse faktisch im eigenen Schrebergarten, in der eigenen Pfarrei, im eigenen Verband wie Kolping oder Frauenbund, in der eigenen „Blase“, in der ich mich wohlfühle und mich keiner in Frage stellt? Der Journalist und Theologe Michael Albus hat eine Zeitansage gewagt, die nachdenklich stimmt: “Die Kirchen haben sich hinter verschlossenen Türen eingerichtet. Sie wohnen nicht mehr in Zelten, die man abbrechen kann, sondern in eingerichteten Wohnungen. Die Beweglichkeit ist ihnen fremd geworden, sie sitzen vor allem. Und sie sitzen fest.

In der Pfingstsequenz erbitten wir genau das Gegenteil: “Löse, was in sich erstarrt”. Dieses Gebet erinnert an die Redensart: “Das war schon immer so, das bleibt auch so”. Die Macht der Gewohnheit bis zur Erstarrung, im Guten verhärtet. Wieviel Leid hat dieses Lebensmotto schon angerichtet, auch in der Kirche, in unseren Gemeinden? Starre Meinungen und Urteile, ohne auch nur ein Jota davon abzuweichen. Stur hängt mit Erstarren zusammen. Und dann der Fanatismus in all seinen Spielarten! Wie gut täte da ein lösendes, erlösendes Eingreifen des Heiligen Geistes.

Könnte es vielleicht sein, dass wir den Heiligen Geist in die Flasche gesperrt haben wie einst Aladin den unheiligen im Märchen von tausendundeiner Nacht? Im Jahr 2021, heute wenn wir uns über ein renoviertes Gotteshaus freuen, da müssen wir den Heiligen Geist aus der Flasche holen, damit es wieder Pfingsten wird in der Kirche: wie damals, als der Geist die eingeschüchterten Jünger aufrüttelte wie ein Hurrikan. Und sie wurden von einem heiligen Kraft erfasst, die keine harmlose Taube war, sondern ein gewaltiger Sturm der Liebe, der im Innern der Dreifaltigkeit lodert. Ihre Zungen wurden gelöst nicht von zu viel spiritus alcoholicus, sondern von der Fülle des Spiritus Sanctus, der sie hinausstürmen ließ, um die Frohe Botschaft in die Welt hinauszuposaunen. Am Karfreitag standen sie da ganz entgeistert; an Pfingsten waren sie Begeisterte, die selbst andere begeistern konnten. Sie hatten den Heiligen Geist noch nicht in die Flasche gesperrt.

Wo sind heute die Gefirmten, denen die Hände aufgelegt wurden, damit sie die Frohe Botschaft hinausrufen in die Welt?

Wo sind die Gefirmten, die ihr Leben ändern, weil sie sich vom Auftrag begeistern lassen, Zeugen des Evangeliums zu sein?

Wo sind die Gefirmten mit dem Mut, auf die Straße zu gehen, um für das Recht auf Leben zu demonstrieren, das jedem Menschen zusteht?

Wo sind die Gefirmten, die Widerspruch einlegen, wenn Gott gelästert und die Kirche manchmal auch unfair kritisiert wird an Stammtischen und bei Kaffeekränzchen, in Zeitungsartikeln und auf Internet-Plattformen?

Wir haben den Heiligen Geist in die Flasche gesperrt. Deshalb reden viele nur noch von der Macht und vom Recht - als Frau, als Laie, als mündiger Christ, als Kleriker und Kirchenbeamter - und vergessen darüber die Pflichten, für die es Begeisterung braucht. Der Heilige Geist wird uns zeigen, worauf es wirklich ankommt. Er ist immer noch mitten unter uns. Davon bin ich überzeugt. Und diese Überzeugung will ich mit Ihnen teilen. Doch wir haben den Heiligen Geist zu einem Flaschengeist gemacht. Herr, schenk uns einen Korkenzieher, um die Flasche zu öffnen. Amen.

25.05.2021 - Bistum Augsburg , Predigt