Predigt vom ernannten Bischof Dr. Bertram Meier am Palmsonntag

Palmsonntag im Zeichen von Corona: ein Drama um Leben und Tod

"Als Jesus in Jerusalem einzog, geriet die ganze Stadt in Bewegung." So hat der Evangelist die heutige Szene kommentiert (Mt 21,10). Im Rückblick wissen wir, wohin diese Bewegung führte: vom "Hosianna" zum "Kreuzige ihn!", vom "Bad in der Menge" zur "Hetze der Masse". Der Bogen der Erniedrigung, der bei der Krippe seinen Anfang nahm, spannt sich aus nach Golgotha, wo das Kreuz steht. Golgotha liegt nicht nur in Jerusalem. Golgotha ist nah – nah bei uns. Und das Kreuz heißt Corona.

Jesus Christus ist nicht zu haben ohne das Kreuz. Die Prozession muss heuer ausfallen, aber das Kreuz bleibt, was es ist: Wegweiser durch die Heilige Woche. Heute ist es geschmückt zum Zeichen, dass am Kreuz nicht so sehr der Tod als vielmehr das Leben hängt. Wie wir zum Kreuz stehen, davon hängt unsere Einstellung zum Leben ab. Wenn Jesus und mit ihm das Kreuz bei uns Einzug hält, gerät unser ganzes Leben in Bewegung. Ja, wir sind in Bewegung. Obwohl wir derzeit daheim bleiben müssen, wenngleich unsere Mobilität eingeschränkt ist, innen im Herzen bewegt sich was. Selbst Menschen, die mit Gott ansonsten nicht viel am Hut haben, sind in Bewegung, sie stellen Fragen, äußern Zweifel, werden bewegt – wohin der Weg geht, ist offen.

Damals wie heute dasselbe Bild: keine einmütige Menge, sondern sehr verschiedene Menschen. Es gab Zuschauer, Mitläufer, Begleiter. Wo stehen wir? Das ist die Frage.

Sind wir Zuschauer?

Die Heilige Woche erwartet schauende, hörende, stille Menschen. Die Palmbuschen, die Lesungen von der Passion, die Feier des Abendmahls, die Gebetswache bis zu den Stationen des Kreuzwegs, schließlich Osternacht und Ostermorgen: der Spannung dieser Tage werden wir nur verweilend gerecht. Hat es bei mir schon einmal richtig geknistert und geprickelt - nicht nur im Magnetfeld eines Menschen, sondern aus Liebe zu Christus? Schon damals haben viele Leute gar nicht richtig mitbekommen, was da eigentlich vor sich ging. Diese Karwoche – fast 2000 Jahre danach - ist ganz anders. Wir können sagen: Diese Woche ist eine Neuauflage von damals. Sie betrifft uns – immer mehr! Dass ein Pastoralreferent schwer krank ist und ein befreundeter Priester diese Woche an Corona gestorben ist, lässt mich nicht kalt. Da kann ich nicht nur zuschauen wie bei einem spannenden Krimi. Es ist ein Drama um Leben und Tod. In der Krise liegt die Chance. Ostern 2020 steht nicht nur im Kalender. Ostern provoziert. Erhebt euch aus den Zuschauersesseln! Geht den Kreuzweg mit!

Sind wir Mitläufer?

Am Palmsonntag gab es Mitläufer: "Da tut sich was! Das möchte ich mir nicht entgehen lassen. Man muss doch mitreden können. Dabei sein ist alles", ob in der Sportarena oder bei der Love-Parade – momentan alles gestoppt. Schon zurzeit Jesu waren die Leute angesteckt von der Sensation des Friedenskönigs. Aus einem kleinen Jesus-Fanclub wurden Massen mobilisiert – heute alles nicht möglich.

Die Frage bleibt: Was war das Hosanna der Menschen wert? Eine Eintagsfliege! Denn nicht nur Begeisterung ist ansteckend, auch Haß und Fanatismus. Noch in der gleichen Woche wechselt die Menge den Slogan. Am Karfreitag heißt es: "Ans Kreuz mit ihm" (Joh 19,6). Mit dieser Parole, ausgegeben von wenigen, aber aufgenommen von der Menge, wird Jesus zum Tod verurteilt, noch ehe ein Richter gesprochen hat. Die Lautstärke der Mehrheit entscheidet über die Wahrheit.

Gibt es nicht auch bei uns viel Mitläufertum? Aus Bildern und Berichten erfahren wir von Aufmärschen. Wir sehen und hören, wie Massen, zum großen Teil hilflose Mitläufer einem Unheilbringer "Heil" entgegenschreien und damit ganze Völker ins Verderben brüllen. Doch es gibt noch subtilere Arten von Mitläufertum: Klischees und Parolen, Gerüchte und Schlagwörter, von wenigen in die Welt gesetzt, aber von vielen gedankenlos nachgeredet und nachgeahmt. Man redet nach, was andere vorsagen. Man tut etwas, weil es die anderen auch tun. Der Mensch, dem die Freiheit so heilig ist, taucht in der Masse ab und überlässt dabei das Denken anderen: "Inkarnation" der öffentlichen Meinung!

Doch die Wahrheit ist verschieden vom Schlagwort. Sie lässt sich weder ertrampeln noch erkämpfen. Die Wahrheit bestimmen keine Massenmode und kein Meinungstrend. Selbst wenn Worte auf sie einschlagen, töten können sie die Wahrheit nicht. "Christ, erkenne deine Würde!" hat Papst Leo der Große gesagt. Es ist unter unserer Würde, in der Kirche nur mitzulaufen - weil es noch immer ganz schick ist, weil man sich in der Menge wohlfühlt und nicht auffällt. Jesus braucht keine Mitläufer, er schafft es allein. Er will Menschen, die seinen Spuren folgen.

Sind wir Begleiter?

Treue Begleiter sind wertvoll und kostbar. Glücklich, wer um einen solchen Begleiter weiß! Es steht mir nicht zu, den Stab über die Apostel zu brechen. Der Freundeskreis hatte drei "Vorwarnungen" erhalten: Der Menschensohn muss leiden und sterben, aber am dritten Tag wird er auferstehen (vgl. Mt 16,21). Ich hätte mir die Freunde besser vorbereitet gewünscht. Petrus hat zwar heftig protestiert. Später will er seinen besten Freund nicht mehr kennen. Was ist eine solche Freundschaft wert? Aber noch hält er zu ihm und mit ihm die Mehrheit der Zwölf - außer dem, der sich als Verräter entpuppt: Die Lippen drückt er im Kuss auf seinen Mund. Welche Begegnung der Freunde! Noch begleiten ihn die anderen. Am Ende aber "verlassen ihn alle Jünger und fliehen" (vgl. Mt 26,56).

Ein Sprichwort sagt: Ein Ganzer ist mehr als zwanzig Halbe. Ein ganzer Freund ist mehr als zwanzig halbe. Wie oft geben wir uns mit der Hälfte zufrieden? Nicht nur bei der "halben Portion" im Restaurant, sondern auch bei der Freundschaft, Partnerschaft und Treue? Die Heilige Woche ist eine Gelegenheit, unsere Halbheiten und Halbherzigkeiten wieder "ganz" zu machen. "Jesus braucht keine Teilzeitkatholiken, sondern Vollblutchristen" (Johannes Paul II.). Markus Söder, der bayerische Ministerpräsident, sagte unlängst: Corona ist ein Charaktertest. Welch wahres Wort aus dem Mund eines Politikers: Corona als Charaktertest. Gerade jetzt merken wir, auf wen wir uns verlassen können und auf wen nicht, wer menschlich Substanz hat und wer nur oberflächlich mitgeschwommen ist. Ein halbes Herz kann keiner schenken. Wenn jemand ein halbes Herz verschenkt, kann es höchstens ein Schokoladenherz sein. Der Herr möchte unser ganzes Herz aus Fleisch und Blut.

Jesus, bilde unser Herz nach deinem Herzen. Wir feiern mit nicht als Zuschauer oder Mitläufer. Am Palmsonntag versprechen wir dir: Wir wollen dich begleiten auf dem Weg zum Kreuz ins neue Leben.

06.04.2020 - Bistum Augsburg