Predigt von Bischof des. Bertram zum 1. Mai

Der Rosenkranz gibt dem Beten Tiefe

Allein den Betern kann es noch gelingen,

das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten

und diese Welt den richtenden Gewalten

durch ein geheiligt Leben abzuringen.

Es war in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs, als diese Zeilen unter Studenten in München verteilt und immer wieder nachgeschrieben wurden. In der Ohnmacht angesichts der heraufziehenden Katastrophe entdeckten sogar Intellektuelle die Macht des Gebetes. Auf die Macht des Gebetes setzen – wer kann das heute von uns „mündigen Christen“? Da schlagen wir uns eher auf die Gegenseite: nicht Macht, sondern Ohnmacht des Gebetes müsste es heißen.

Not und Segen des Gebetes

Ich bitte gleich zu Anfang: Nehmen wir redlich und wahrhaftig auch diese dunkle Seite des Gebetes in unser Nachdenken und Nachspüren mit hinein. Wir brauchen uns dessen nicht schämen. Im Gegenteil: Unsere Betrachtung wird menschlicher und realistischer, sie nimmt die Erfahrungen ernst, die der Betende macht, und zeigt uns, dass Beten als Not und Segen zugleich empfunden wird: Da durfte einer erfahren, dass sein Gebet Erhörung fand. Doch andere unter uns, gedrückt und verbittert, können vom Gegenteil erzählen: Wie haben wir um das Leben eines Kindes, um die Heilung eines Krebskranken gebetet – und es hat nichts genützt! Und dann finden wir uns wieder im Grübeln und Hadern eines guten Menschen, der über einen schweren Schlag nicht hinwegkommt und sich fragt, wie es sein kann, dass andere, die in Saus und Braus leben, scheinbar unverwundbar über alle möglichen Dämpfer erhaben sind. 

Schließlich kennen wir auch die kleinlaute Klage: „Ich habe gebetet, aber meine Gebete waren wie Telefongespräche mit einem unverbundenen Apparat. Ich hatte das Gefühl, dass die Leitung tot war.“

Es ist wahr: Nie erscheint ein Mensch ohnmächtiger als wenn er betet. Die gefalteten und ineinander gelegten Hände sind die Hände eines Gebundenen, der sich gleichsam selbst entmachtet, indem er die Kraft seiner eigenen Hände hineinlegt in die Macht des ganz Anderen. Es gibt Menschen, die das Falten der Hände nicht fertig bringen, weil sie darin ein Zeichen menschlicher Ohnmacht sehen. Damit haben sie Recht: Nie erscheint ein Mensch ohnmächtiger, als wenn er betet.

Doch damit nicht genug: Gilt nicht auch die Umkehrung: In seiner Machtlosigkeit erscheint der Mensch nirgendwo mächtiger als wenn er betet. Dann freilich hat er sich auf einen sonderbaren Tausch eingelassen: Er hat sie eingetauscht – die eigene Kraft gegen die Stärke eines Gottes, der sich in der Ohnmacht des Kreuzes als mächtig erweist – nirgends sonst.

Die Kirchengeschichte als Gebetsgeschichte

Ich habe mir einmal vorzustellen versucht, wie eine Kirchengeschichte aussähe, wenn sie einmal ganz anders geschrieben würde: nicht als Papstgeschichte, nicht als Geschichte der Triumphe und Skandale, sondern als Geschichte des Gebetes. Es wäre ein schwieriges Unterfangen, weil es sehr Persönliches, ja Intimes berührt. Aber wir würden darin erkennen, wie oft gerade die Kleinen und Geringen die Entscheidungen der Kirche vorbereitet und getragen, ja sogar mit getroffen haben durch ihr Gebet. Ich persönlich weiß um Menschen, die mich begleiten gar nicht durch viele Worte, sondern durch ihr treues Memento. Besonders dankbar bin ich für meinen viel zu früh verstorbenen Vater, der mir Lehrer des Gebetes war. Zusammen mit meiner Mutter knüpfte er (ein evangelischer Christ!) für mich zur Erstkommunion diesen Rosenkranz, der mir bis heute ein wertvoller Begleiter ist.

Beten lernt man nicht wie Vokabeln aus dem Schulbuch. Beten lernen wir in der Schule des Lebens. Wenn Beten in die Tiefe gehen soll, dann braucht es Wurzeln im Leben, Vorbilder, für die das Beten eine Art Wasserzeichen des Lebens war. Das erste Kapitel einer Gebetsgeschichte würde ich der Gottesmutter widmen. Einzig in ihrer Ohnmacht liegt ihre Vollmacht. In ihrer Feinheit und Unaufdringlichkeit liegt ihre Kraft. Solche Aussagen entziehen sich dem ausschließlich logischen Beleg. Sie können nur in Vergleichen und Bildern nahe gebracht werden. Ich möchte diese Feinheit der Gottesmutter mit einer Malerei beschreiben. 

Die Knotenlöserin lehrt beten

Das Bild befindet sich nicht weit entfernt von uns: in der im Kern noch romanischen Kirche St. Peter am Perlach. Dort hängt es rechts über einem Seitenaltar, es soll um 1700 gemalt sein, barock also, groß wie ein Altarbild.

Es zeigt Maria als hübsche, junge Frau in rotem Gewand, einen fliegenden blauen Überwurf um Hüften und Schultern, in der Mondsichel stehend, mit einer dunklen Schlange unter den Füßen. Dann das Entscheidende: Sie löst einen Knoten auf an einem weißen Band, das ihr ein Engel von links ganz verknotet zureicht; auf der anderen Seite fällt es in leichten Wellen entflochten und glatt in die Hände eines anderen Engels. Ein Gewimmel von kleinen Engelsköpfen schwirrt um Marias Kopf – darüber die Taube des Heiligen Geistes in hellem Licht. Unter der Madonna entdecken wir uns selbst: einen einsamen, bedrückten Menschen, den ein Engel zu einer Kirche weist.

Ein Gemälde – fast zu lieblich ist es arrangiert; die Engel sind dem Geschmack zu viel; es sieht alles zu glatt aus. Aber gerade dieses Bild kann uns anrühren: Nie ist der Mensch mächtiger als wenn er betet. Feinheit und Geduld sind der lange Atem der Gottesmutter. Darin liegt die Botschaft des Bildes. Und mehr noch: Angenommen, ein frommer marianischer Verein würde auf ein paar Seiten alle biblischen Stellen von Maria sammeln und drucken lassen. Angenommen, jemand, der vom Christentum keine Ahnung hat, würde diese religiöse Kleinschrift in die Hand bekommen, was würde er vom Christentum „wissen“? Was würde er als Botschaft mitnehmen? Wäre es nur ein Rahmen ohne Bild? Oder käme da Entscheidendes über? Wäre es nicht reizvoll, dieses „Evangelium nach Maria“ durchzubeten?

Das „Evangelium nach Maria“

Der Rosenkranz ist gleichsam das gebetete „Evangelium nach Maria“. Und das Bild von der Knotenlöserin bringt dieses Evangelium auf den Punkt, es gibt dem Gebet Tiefgang und Weite zugleich. Auch bei Maria lief – rein menschlich gesehen – nicht alles glatt. Von der Empfängnis über die Geburt bis zum pubertierenden Jugendlichen: Jesus war zunächst kein Wunschkind. Ein Zwölfjähriger, der bei einer Wallfahrt seine eigenen Wege geht, ist bestimmt kein Vorzeigesohn. Mit dem eigenen Sohn, als vermeintlicher Verbrecher zum Tod verurteilt, den Kreuzweg zu gehen – davon träumt keine Mutter. Marias Lebensband war voller Verknotungen, doch sie haben sich aufgelöst: nicht sofort, sondern erst später im Licht von Ostern und mit dem Rückenwind des Heiligen Geistes. 

Ohnmächtig sieht Maria aus, als der Knoten sich zuzieht am Karfreitag – doch mit welcher Vollmacht wird sie zum Mittelpunkt für einen Freundeskreis, der um seine Zukunft bangt, da ihm sein Herz, der Auferstandene, entzogen ist. Im Obergemach, wo Jesus das Abendmahl gefeiert hat, bekommt das Gebet der Apostel Tiefgang. Das Obergemach wird gleichsam zur Gebetsschule. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Apostel und Maria dort eine Art Rosenkranz gebetet haben, d.h. dass sie einander die Geschichten erzählten, die sie erleben durften mit Jesus von Nazareth, und dass so die Bilder, die sie in ihrem Herzen hin und her bewegten, nach und nach in einer ganz neuen österlichen Perspektive erschienen! Der Glanz der ganzen Wahrheit kam ans Licht. 

Ergebnis: Der Knoten des Karfreitags löste sich, das Band der Heilsgeschichte wird weiter gewoben – für die große Menschheitsfamilie ebenso wie für unsere ganz persönlichen Lebensläufe. 

Knoten bei Maria – Knoten bei uns

Auf diese Weise rückt die Knotenlöserin wieder in den Blick. Sie nimmt uns in die Schule des Betens mit. Der Rosenkranz führt uns in die Tiefe. Indem er die Knotenpunkte des Lebens Jesu ausleuchtet, stellt er auch unsere Lebensknäuel in ein neues Licht. Wir alle kennen verknotetes Leben. Da sind die zerstrittenen Ehepaare, deren Knoten mit Händen zu greifen sind. Wir leiden unter den Knoten, die unseren Gemeinschaften und Gruppen die Luft abschnüren. Schlimmer noch sind die Schlingen, in denen ein Mensch mit sich allein ist: „Maria vom Knoten, der Knäuel bin ich“. Dies klingt wie ein entsetzter Aufschrei. Ein Mensch kommt über sein Schicksal einfach nicht hinweg. Er verfängt sich mit sich und in sich selbst. Jemand ist in einem Trotz hängen geblieben, der vielleicht in seiner Kindheit wichtig war, jetzt aber nur behindert. Ein anderer hat sich in einer Angst verfangen, die einmal ganz „normal“ war, jetzt aber nur noch einengt und fesselt. Eigenschaften und Fähigkeiten, einst brauchbar zu Leben, passen nicht mehr, weil sich die Situation geändert hat.

Eine Schleife an unserem Lebensband hat sich zu einem kleinen, harten Knoten zusammengezogen. Er schnürt das Leben ein, er sperrt das Blut ab, er verleitet zu verbissenen Anstrengungen. Aber unser eigenes Ziehen und Zerren macht den Knoten nur noch fester. Man könnte daran verzweifeln, wenn da niemand ist, der das verknotete Band in die Hand nimmt. Geduldige Finger, wie in der Kinderzeit die der Mutter, suchen und tasten, statt blindlings zu zerren. Sie finden das kleine Loch, wo sich mit behutsamen Gegenzügen etwas lockern lässt. Es ist die Kunst (vor allem) der Frauen, mit Knoten zärtlich und lösend umzugehen.

„Im Schauen auf dein Antlitz werden wir verwandelt in dein Bild.“

Ich wünsche mir selbst als Seelsorger diese Kunst des Knotenlösens. Gern hätte ich die Knotenlöserin persönlich gefragt: Wie hast du es eigentlich geschafft, die Verknotungen deines Lebens zu lösen? Ich kann sie direkt nicht fragen, doch die Antwort gibt mir ihr Leben: Maria hat nicht mit eigener Kraft gekämpft; dafür hat sie mit den Augen eines liebenden Herzens auf ihren Sohn Jesus geschaut. Sie hatte ein Auge nur für ihn. Der Blick auf Jesus, das Anschauen seines Wortes und Wirkens, hat ihrem Leben Tiefgang gegeben. 

In einem modernen Lied singen wir: Jesus, „im Schauen auf dein Antlitz, da werden wir verwandelt, da werden wir verwandelt in dein Bild“. Die Kirche als Bild Jesu, wir als Ikone des Herrn: Das soll mehr sein als ein schöner Traum. Jesus, „im Schauen auf dein Antlitz, da werden wir verwandelt in dein Bild“. Wir Christen brauchen nicht nur Rosenkranz beten. Aber eine Kirche, die den Rosenkranz nicht mehr betet, setzt ihre Berufung aufs Spiel. Sie bringt das Bild Christi nicht mehr zum Leuchten, sondern verdunkelt es. Denn gerade im Rosenkranz schauen wir Sein Antlitz, und dann werden wir verwandelt in Sein Bild“. Amen.