Natan Grossmann überlebte den Holocaust

Aus dem Getto nach Auschwitz

BAD WÖRISHOFEN – Wie kann ein Mensch seine furchtbaren Erfahrungen verarbeiten, nachdem er das Getto von Lodz und das Konzentrationslager Auschwitz erlebt und den größten Teil seiner Familie verloren hat? Diesen und anderen Fragen stellte sich Natan Grossmann aus München bei einem Treffen mit Journalisten in Bad Wörishofen – dort, wo er zum 20. Mal eine Kneippkur absolviert. Der beinahe 90-Jährige erwies sich als vollendeter Gastgeber. Er ließ es sich nicht nehmen, der Runde Kaffee zu servieren, bevor er aus seinem Leben erzählte.

„Ich hatte die Geschichte für mich annulliert“, sagte er seinen verblüfften Zuhörern gleich zu Beginn. Von seiner Vergangenheit hatte er absolut nichts wissen wollen. Als er elf Jahre alt war, musste die Familie Grossmann – Mutter Bluma, Vater Avram, der ältere Bruder Ber und er – wie alle anderen Juden der Region ihre Wohnung in der Kleinstadt Zgierz verlassen und nach Lodz übersiedeln, damals in Litzmannstadt umbenannt.

Zusammengepfercht in elenden Gebäuden, abgeriegelt von der restlichen Stadt, hausten im Getto 160 000 Menschen unter furchtbaren Bedingungen. Die Polizei, die Schmuggel und Schwarzhandel unterbinden sollte, erpresste durch Folter versteckte Wertsachen. Avram Grossmann überlebte das nicht. Als armer Schuster besaß er nichts, um sich freizukaufen. Im selben Jahr, 1942, verschwand auch Ber spurlos. 

Die Frage der Jungen

„Warum habt ihr nicht gekämpft?“, warfen junge Juden im Kibbuz in Israel Natan Grossmann und anderen Überlebenden später immer wieder vor. Dies erfüllte ihn mit Scham. Er beschloss, die Vergangenheit zu begraben. Bis 1960 hatte er deshalb auch nie die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem besucht. „Wie hätten wir kämpfen können? Die Rabbiner sagten, der Messias kommt und wird uns erlösen. Der Judenälteste Mordechai Chaim Rumkowski sagte, Arbeit ist unsere einzige Rettung. Und wir dachten, der Krieg wird bald vorbei sein.“

Bis zum Ende hofften viele Juden, durch ihre Arbeit der Deportation und dem Hungertod entrinnen zu können. Für Natan Grossmann sollte sich dies tatsächlich als Schlüssel zum Überleben erweisen. Er erlernte in einer Metallfabrik den Beruf des Schmieds. Wer schwer arbeitete, bekam zusätzlich Suppe. Auch das reichte nicht für einen Jugendlichen im Wachstum. Seine Mutter gab ihm regelmäßig von ihren spärlichen Essensrationen ab und starb vor Hunger und Schwäche. Nach ihrem Tod 1942 stand Natan alleine da. Er  musste aus dem Zimmerchen der Familie ausziehen. Der Junge suchte sich einen Schlafplatz auf dem Hof: „Es wäre gefährlich gewesen, im Keller bei den Ratten zu schlafen.“

Im Sommer 1944 wurde begonnen, das Getto aufzulösen. Die meisten Bewohner wurden nach Auschwitz deportiert. Es klingt paradox, doch Grossmann ist überzeugt: „Mir hat Auschwitz das Leben gerettet.“ Dank seiner guten körperlichen Konstitution wurde der beinahe 16-Jährige bei der Selektion als arbeitsfähig eingestuft. Als dann rund 1000 Metallarbeiter für die Büssing-NAG in Braunschweig gesucht wurden, wurde Natan Grossmann nach Vechelde transportiert, einem Außenlager des KZ Neuengamme.

Dem Schmiedemeister in der dortigen Werkstatt ist er heute noch dankbar: „Wir wurden gut behandelt. Wir arbeiteten zwölf Stunden täglich und hatten einen Tag in der Woche frei.“ Vor allem erhielten sie genug zu essen. Als sich das Ende der Naziherrschaft abzeichnete, wurden die Häftlinge aus Vechelde nach Neuengamme geschickt. Wer auf diesem Todesmarsch nicht mithalten konnte, wurde erschossen. 

Bei Ludwigslust in einem weiteren Außenlager befreiten die anrückenden Amerikaner am 2. Mai 1945 die Häftlinge. Natan Grossmann schlug sich nach Lodz durch, um nach Verwandten zu suchen. Später erfuhr er, dass von der engeren Familie lediglich ein Onkel und ein Cousin in Russland überlebt hatten.

Er traf eine Cousine zweiten Grades, Haika Grossmann, die in Bialystok im heutigen Ostpolen mit Partisanen gekämpft hatte. Mit ihrer Hilfe gelang es ihm, 1946 nach Palästina zu kommen – auf dem letzten Schiff, das anlegen durfte. Spätere jüdische Flüchtlinge seien in Zypern interniert worden. In Israel arbeitete er in einem Kibbuz und kämpfte 1948 im Palästinakrieg – aus Überzeugung: „Wir Juden haben ein Recht auf unseren eigenen Staat. Wir haben schon seit den 1880-er Jahren den Scheichs Land in der Wüste abgekauft und es bewirtschaftet.“ 

Einsicht statt Rache

In Deutschland stand Grossmann in den ersten Monaten nach der Befreiung der Nakam nahe, einer radikalen jüdischen Organisation, deren einziges Ziel die Rache am deutschen Volk war. Heute distanziert er sich: „Die Menschen wurden durch Demagogen in die Irre geführt. Ich auch. Wir hätten die Falschen erwischt. Ich hätte damals auch meine jetzige Frau erschossen, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte.“ Welches Glück, dass er seine Ute erst kennenlernte, als er 1959/60 in München im Krankenhaus war, um die Spätfolgen der KZ-Tortur behandeln zu lassen. 

Er, der erst die Vergangenheit vergessen wollte, geht heute an die Öffentlichkeit. Großen Anteil daran hat die Dokumentarfilmerin Tanja Cummings, die ihn von der Notwendigkeit überzeugte. So kam es, dass Grossmann für den Film „Linie 41“ vor sieben Jahren mit ihr an die Stätten seiner Jugend reiste.

Grossmann teilt heute die Meinung, die David Ben Gurion, Israels erster Ministerpräsident, 1952 beim Treffen mit Bundeskanzler Konrad Adenauer äußerte: „Das heutige Deutschland ist ein anderes Deutschland.“ Damit erklärt er auch seine Rolle als Zeitzeuge: „Diese zwölf Jahre Faschismus haben das deutsche Nest beschmutzt. Ich will mithelfen, es sauber zu halten, und nicht zulassen, dass es nochmal beschmutzt wird.“ 

Dazu bleiben ihm nach eigener Aussage 30 Jahre. Er hofft nämlich, so alt zu werden wie der große Lehrer und Prophet Mose – 120 Jahre. 

Daniela Hölzle

05.09.2018 - Hintergrund , Historisches