Sigmar Gabriel war von 2009 bis 2017 Bundesvorsitzender der SPD. Vor seinem Rückzug aus der aktiven Politik 2018 war er zuletzt Bundesaußenminister und Vizekanzler. Im Exklusiv-Interview spricht er über seinen Glauben, gelebte Ökumene, Streitkultur, gute und schlechte Entscheidungen und das soziale Gewissen.
Herr Gabriel, können Sie sich bitte ein bisschen beschreiben?
Oh je, das ist ja ein versteckter Appell an die menschliche Eitelkeit. Vielleicht wäre es besser, Sie würden dazu meine Frau befragen. Aber im Ernst: 61 Jahre alt, verheiratet, glücklich im relativ hohen Alter noch einmal Vater geworden zu sein, Protestant – evangelisch-lutherisch, also sozusagen zugehörig den Katholiken unter den Protestanten –, unglücklicher Sozialdemokrat – das hat ja auch etwas Protestantisches an sich –, immer noch zu dick, aber ansonsten zufrieden, nach vielen Jahren der Unrast viel Zeit zu Hause verbringen zu können. Reicht das?
Sind Sie ein gläubiger Mensch?
Ja, ich bin ein gläubiger Mensch, weil ich sicher bin, dass es eine „Instanz“ gibt, die außerhalb unseres menschlichen Daseins und Denkens existiert. Manchmal ertappe ich mich sogar dabei, dass ich mir Teile meines Kinderglaubens an Gott bewahrt habe und ihn mir immer noch als diesen alten freundlichen Mann mit weißen Haaren vorstelle, den wir im Konfirmandenunterricht so oft vor unserem inneren Auge hatten.
Was bedeutet für Sie der Glaube an Gott?
Im Kern bedeutet es für mich, dass unser menschliches Handeln nicht nur an sich selbst zu messen ist. Dass wir nicht die letzte Rechtfertigung in uns selbst sehen sollten. Und in den Krisen, die ich wie jeder Mensch im Leben durchlebte, war das Beten eine innere Erleichterung.
Wie viel Politik verträgt der Glaube? Und umgekehrt?
Politik ist das Denken und Handeln im öffentlichen Interesse und für öffentliche Güter. Das ist weit mehr als Parteipolitik. So verstanden verträgt der Glaube jede Menge Politik. Umgekehrt ist es vielleicht noch viel wichtiger: Dass der Glaube das Denken und Handeln in der Politik beeinflusst, kann doch ein wunderbarer Rahmen sein, in dem man sich mit Blick auf öffentliche Güter und das öffentliche Interesse bewegt. Glaube – egal ob jüdisch, christlich, muslimisch oder anders orientiert – darf allerdings ebenso wenig zur Voraussetzung für politisches Handeln werden, wie es die Verneinung jeden Glaubens sein darf.
Kann, auch wenn in der Politik oft gestritten wird, eine gesunde, nicht übertriebene Streitkultur positiv für die Menschen sein?
Ganz sicher. Das kennen wir doch schon aus dem Privatleben: Was uns freut, was uns ärgert, was wir erhoffen und erreichen oder was wir befürchten und verhindern wollen, müssen wir ausdrücken. Und nicht immer sind unsere Freunde, Nachbarn, Familienmitglieder gleichen Sinnes, sondern haben für ihr Leben ganz andere Ideen und Gefühle. Wir müssen damit umgehen lernen, ohne uns darüber dauerhaft zu zerstreiten. Wer das nicht lernt, wird ein einsamer Mensch. Es ist sozusagen Teil unseres Erwachsenwerdens.
Exakt den gleichen Prozess gibt es auch in der Politik. Das ist übrigens einer der Gründe, warum diejenigen, die lange in der Politik aktiv waren, im fortgeschrittenen Lebensalter viel nachsichtiger, freundlicher und gelassener werden, als sie es selbst in jungen Jahren waren.