Heiligen-Gedenktag am 28. August

Christus anbeten und nähren

Es war der schlimmste Tag in seinem Leben: das Lawinen­unglück vom Winter 1991 am Großen St. Bernhard. Yvon Kull wusste, was er zu tun hatte. Als Lawinenhundeführer zögerte er keine Sekunde, das sichere Pilgerhospiz zu verlassen und sich auf die Suche zu machen. Am Morgen erst war die 13-köpfige Pilgergruppe aufgebrochen: in Begleitung eines Chorherren, Kulls Mit-Priester. 

Anders als sonst wurde Kull diesmal von seinem eigenen Belgischen Schäferhund begleitet. „Fünf von der Gruppe konnten wir retten, dann kamen die Toten. Den ersten fand mein Hund. Trotz totaler Erschöpfung hatten wir die Kraft, weiterzusuchen.“ Das schreckliche Erlebnis musste verarbeitet werden. „Nach einem Monat habe ich alles aufgeschrieben. Zur Bewältigung. Danach ging es mir besser.“

Seit fast 1000 Jahren führen Chorherren des Augustiner-Ordens das Pilger-Gasthaus, das „Hospiz“, an dem bekannten Schweizer Pass. Die Augustiner-Chorherren sind mehrere Kanonikerorden, die in einer Konföderation zusammengeschlossen sind. Sie alle leben nach der Regel des heiligen Augustinus von Hippo (354 bis 430), dessen Gedenktag der 28. August ist. 

Noch grünt es am Großen St. Bernhard auf knapp 2500 Höhenmetern. Ab Mitte Oktober aber versinkt das Refugium im Schnee. Die Pass-Straße über den Großen St. Bernhard ist dann gesperrt. Bis Ende Mai wird die Pilgerstätte großteils von der Außenwelt abgeschnitten sein. Allein sind die Chorherren aber auch dann nicht. Mehrere Tausend Übernachtungen gibt es in der Wintersaison. 

Gebete und Gottesdienste

Die Gäste kommen – auch wenn der Aufstieg mit Tourenski oder Schneeschuhen äußerst anstrengend ist. Für die meisten bedeutet der Aufenthalt eine Einkehr zu sich selbst: Gespräche mit den Geistlichen, Gottesdienste und Gebete in der Krypta stehen auf dem Programm. Die Chorherren sind für ihre Gastfreundschaft bekannt. Seit Jahrhunderten leben nach dem Wahlspruch „Hic Christus adoratur et pascitur“ (Hier wird Christus angebetet und genährt). 

Vor Schließung der Straßen werden die Lebensmittelvorräte aufgefüllt und die Heizöltanks vollgepumpt. Der Schnee übersteigt im Winter regelmäßig sogar den Eingang zur Pilgerstätte. Die berühmten Bernhardiner-Hunde sucht der Gast dann übrigens vergeblich. Die kalten Monate verbringen sie in ihrer Zuchtstation „Barryland“ im Tal bei Martigny. Nur im Sommer begleiten sie Touristen in die Berge.

Jetzt, im Spätsommer, zum Tag des heiligen Augustinus, ist es am Großen St. Bernhard sonnig und warm. Yvon Kull kommt gerne zurück an seine alte Wirkungsstätte, um mit den anderen Chorherren zu essen, die Messe zu feiern und zu reden. Ab 1977 lebte Kull auf dem Pass. „Jeder von uns hatte seine Aufgabe“, sagt er. In den Pfarreien der umliegenden Bergdörfer hielten sie die Messe oder lehrten Landwirtschaft.

Kull war verantwortlich für den Empfang der Pilger im Hospiz. Sinnsuchende begleitete er in die Berge. „Die Wanderungen waren immer auch mit einem religiösen Hintergrund verbunden“, betont er. Geboren 1950 in Neuchâtel (Neuenburg), trat Kull 1969 ins Priesterseminar in Martigny ein. Im Noviziat wurde ihm klar, dass er sein ganzes weiteres Leben Gott widmen möchte.

Der Lockruf der Berge 

Nach dem Studium der Theologie in Fribourg (Freiburg im Üechtland) erwachte in ihm der Wunsch, in der Einsamkeit der Berge zu leben. Es war der Große St. Bernhard in den Walliser Alpen, der ihn anzog. Sein Traum erfüllte sich, als er ins Hospiz auf dem Pass zog. Mitte der 1980er Jahre absolvierte der tierliebe Mönch eine Ausbildung zum Lawinenhundeführer. 

„Die ­Gehorsamkeitsprüfungen waren besonders schwierig. Manchmal musste ich zehn Bernhardiner-Welpen beibringen, wie sie reg­los liegenbleiben, ohne mich auch nur zu sehen“, erinnert sich der Schweizer und schmunzelt. Zwischen 1985 und 2003 erlebte er sechs Lawinenunglücke. Mit seinen Hunden rettete er zahlreiche Menschenleben. Die Bilder der Verschütteten, die nur noch tot geborgen werden konnten, vergisst er bis heute nicht. 

Zufluchtsort für Pilger

Die Geschichte des Hospizes am Großen St. Bernhard reicht weit zurück: Im elften Jahrhundert gründete der heilige Bernhard von Aosta auf 2469 Metern Höhe einen Zufluchtsort für Reisende und Pilger. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts wurden dort große Hunde zur Bewachung und zum Schutz gehalten. Als Begleit- und besonders als Rettungshunde für in Schnee und Nebel verirrte Reisende haben sie die Augustiner-Chorherren unterstützt.

Diese später als Schweizer Nationalhunde bekannten Bernhardiner haben zahlreiche Menschenleben gerettet und vor dem weißen Tod bewahrt. Unvergessen ist Barry I. Er lebte von 1800 bis 1812 auf dem Pass und starb zwei Jahre später in Bern an Altersschwäche. Er rettete mehr als 40 Menschen das Leben und hat viel zum guten Ruf der Bernhardiner-Hunde beigetragen. 

Bessere Beziehung zwischen Mensch und Hund

2005 übernahm die ­„Fondation Barry“ die Zuchtstation von den Chorherren und setzt sich seither für die Sicherung des Fortbestands der berühmten Hunde ein. Die Stiftung will Menschen durch die Begegnung mit Bernhardinern Freude bereiten und damit zu einer besseren Beziehung zwischen Mensch und Hund beitragen. Rund 30 Bernhardiner leben permanent in der Station, pro Jahr kommen im Schnitt 20 Welpen zur Welt.

Den Sommer können einige der Vierbeiner an ihrem Ursprungsort, dem Pass am Großen St. Bernhard, verbringen. 2014 übernahm die Fondation auch das „Musée et Chiens du Saint-Bernard“ im nahen Martigny und benannte es in „Barryland“ um. Dort können Besucher die Hunde beobachten, Ausstellungen ansehen oder die Geschichte des Passes entdecken. 

Lawinenabgänge, Vermisste und Tote gibt es in den Alpen bis heute immer wieder. Die letzte Rettung durch einen Bernhardiner liegt aber schon Jahrzehnte zurück. „Für den Helikopter-Einsatz sind sie zu schwer. Heute werden eher die viel leichteren Border Collies eingesetzt“, erklärt Madeleine Wagner von der „Fondation Barry“.

Eremit abseits des Trubels

Yvon Kull begann 2007, über seinen Rückzug aus der Bergwelt nachzudenken: Er wollte sich noch weiter in die Einsamkeit zurückziehen, sagt er. Seinem Antrag wurde entsprochen. Heute lebt er als Eremit in einem kleinen Häuschen im Wallis, abseits des Trubels. Nur ab und an zieht es ihn immer noch hinauf ins Refugium und er folgt dem Ruf der Berge. 

So wie jetzt im Spätsommer. Es wird das letzte Mal in diesem Jahr sein, denn der erste Schnee wird schon im Oktober den Pass am Großen St. Bernhard in ein weißes und schwer zugängliches Paradies verwandeln – ein Paradies, das Yvon Kull einst schwere und schöne Tage bereitete.

Sabine Ludwig

23.08.2022 - Glaube , Natur , Tiere