„Weihnachten kommt immer so plötzlich“, stöhnen einige kurz vor Heiligabend. In Marseille, gegründet von den Griechen um 600 vor Christus und damit die älteste Stadt Frankreichs, ist das kaum zu hören. Denn die Franzosen sammeln oder verschenken schon im Herbst Santons, handgefertigte Krippenfiguren aus der Provence, dem Umland der Hafenstadt.
Der Brauch, Krippen mit Figuren aufzustellen, kam im Mittelalter auf und könnte seinen Ursprung in der Provence haben. Angeblich soll die Mutter von Franz von Assisi, die aus der Provence stammte, 1223 in Greccio, einer kleinen italienischen Stadt, die erste Krippe gestaltet haben. Zur Weihnachtszeit Krippen in Kirchen aufzustellen, war erst Jahrhunderte später üblich.
Durch die Französische Revolution und die Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789 wendete sich das Blatt. Kirchen wurden geschlossen oder zerstört und die weihnachtlichen Mitternachtsmessen verboten. Die Gläubigen in der Provence formten daher Krippenfiguren aus Brotresten – nicht nur Maria, Josef und das Jesuskind, sondern auch Figuren aus ihrem dörflichen Umfeld. So entstanden die ersten Santons. Immer einfallsreicher werden sie inzwischen gestaltet.
Mal elegant, mal bunt
Jedes Jahr kaufen die Familien ein bis zwei Figuren, und die Krippen daheim werden immer größer. Ende Oktober, wenn es in Marseille noch sommerlich warm ist, schauen sich die Santon-Fans schon mal bei Arterra um, einem Fachgeschäft im Altstadtviertel Panier.
Die Regale quellen dort bereits über, und besonders fallen elegante Damenfiguren in heller Kleidung auf. In strahlendem Weiß zeigen sich Maria und Josef. Zusammen mit dem Jesuskind stecken sie in einem silbrigen Flausch. Der Kleine liegt also nicht auf hartem Stroh. „Dieser Laden war früher auf weiße Figuren spezialisiert“, erklärt eine Kundin. Nun überwiegen die bunten Modelle.
Aus Ton, der in eine Gipsform gepresst wird
Santons bestehen aus Ton, der in eine zuvor angefertigte Gipsform gepresst wird. So lassen sich mehrere identische Figuren nacheinander herstellen. Eine Idee von Jean-Louis Lagnel im Jahr 1797. Dennoch ist das nach wie vor eine kniffelige, Konzentration erfordernde Arbeit. Eine junge Frau, die im Laden an den erdfarbenen Figuren arbeitet, trägt gar zwei Brillen übereinander. Solche Ton-Santons erhalten auch die Schulkinder, um sie zu bemalen.
Nur wenige Minuten sind es von Arterra zur Kathedrale, der Bischofskirche der Erzdiözese Marseille. Das bis 1852 erbaute neo-byzantinische Gotteshaus, errichtet auf frühchristlichem Grund, ist eine der größten Kirchen Frankreichs.
Beter sind drinnen nicht zu sehen, wohl aber eine große komplette Krippe mit Häusern, Brunnen, Teichen und vielen Santons – schon einige Wochen vor dem Advent. Nathalie aus Marseille staunt über den frühen Termin. Eigentlich wird das Jesuskind an Heiligabend nach der Mitternachtsmesse in seine Krippe gelegt, hier aber liegt es grell angestrahlt schon darin. Außerdem dürfen die Heiligen Drei Könige erst am 6. Januar zum Stall mit der Krippe, doch die sind auch schon da.