Sankt Goar

Der Mann, der den Teufel trat

Viel weiß man nicht über ihn, den Volksheiligen vom Mittelrhein, historisch Verbürgtes noch weniger. Von Koblenz bis Bingen feiern ihn Wirte, Winzer und Schiffer als Patron und Kämpfer für den Glauben. Ihn lebte der Eremit Mitte des sechsten Jahrhunderts den Menschen vor, wo der Rhein zwischen Hunsrück und Taunus durch ein schmales Tal Richtung Norden drängt. Heute steht dort ein schmuckes Städtchen mit seinem Namen: Sankt Goar. 

Er trägt den Heiligenschein, dazu ein Priestergewand. In der Rechten hält er einen Kelch, in der Linken ein frühes Modell jener Kirche, deren spätgotische Kanzel er jetzt zusammen mit Christus und den vier Evangelisten ziert. Fast gleich alt sind auch die Glasfenster, Schlusssteine und Malereien im Gewölbe, auf denen sich der Volksheilige in St. Goars Stiftskirche zeigt. Das heute evangelische Gotteshaus ist Teil des Weltkulturerbes.

Vor der mächtigen Kirchenfassade stehen Stühle und Tische umliegender Restaurants. Hier müssen die Wirte von Frühjahr bis Spätherbst das erwirtschaften, was ihnen auch für den Rest des Jahres zum Leben reicht. Im Winter nämlich ist es stiller hier und meist grau, haben der Rhein sein Blau und die Hänge ihr Grün verloren. Farben, welche die Sonne aus der Landschaft kitzelt, die jetzt die Enge zu Füßen des sagenumwobenen Loreleyfelsens aufheizt. 

Den Rhein bei St. Goar hat man längst in ein festes Bett gepackt, Felsen aus dem Fluss gesprengt und die Fahrrinne so vertieft, dass selbst größte Schiffe nicht anecken – ganz anders als zu Goars Zeiten, als Rheinreisende wegen Strömung und Hindernissen gezwungen waren, hier an Land zu gehen. Der ideale Platz also, um den Glauben möglichst vielen vorzuleben. 

Dazu hatte sich der fromme Mann aus Aquitanien, dessen erste Lebensbeschreibungen aus dem achten Jahrhundert stammen, in einer Einsiedelei unweit des Flusses niedergelassen. Die Gegend bildete damals die Ostflanke des gerade christianisierten Frankenreichs, wo die Mission erst am Anfang stand. 

Ungewöhnlich, heißt es, waren Goars Predigten, die er etwa vom Boot aus zu den Fischern am Rhein hielt. Seine wichtigste Zielgruppe, wie man heute sagen würde, waren Menschen in Not oder auf der Suche nach Essen und einem Platz zum Schlafen. In seiner Biographie wird ihm unter anderem der Bau eines Hospizes zugeschrieben. Und einer Kapelle, in der er Reliquien Marias, Johannes des Täufers und der Apostel aufbewahrt haben soll. Dort wurde er nach seinem Tod um das Jahr 575 bestattet. 

Um sein Leben ranken sich viele Geschichten. Die etwa, dass er sich, als man ihn zum Nachfolger des verstorbenen Bischofs von Trier machen wollte, weigerte, seine Einsiedelei zu verlassen. Gott, sagt die Legende, habe sein Flehen erhört und ihn sieben Jahre lang im Bett liegen lassen. Schon früh lockte Goars Menschenfreundlichkeit die Wallfahrer an den Rhein. 

Man sagte ihm nach, angesichts eines griesgrämigen Trierer Bischofs Hut und Mantel an einem Sonnenstrahl aufgehängt oder den Teufel, der ihn verleumdete, getreten zu haben. Andere Geschichten besagen, er sei ohne ein Ruder den Rhein stromaufwärts gefahren  und habe Schiffer vor dem Untergang gerettet. Es sind Sagen wie diese, die ein Jahrtausend später in den Erzählungen um den Loreleyfelsen aufgehen sollten.

Karl und Pippin, die verfeindeten Söhne Karls des Großen, sollen sich an Goars Grab versöhnt haben, was ihren Vater veranlasst habe, bei seinen Reisen immer wieder in St. Goar Station zu machen. Gebete am Grab hätten zudem Karls Frau Fastrada von Zahnschmerzen befreit. 34 solcher Mirakel verzeichnete Goars Biograph, der Prümer Mönch Wandalbert (813 bis 870).

Den Auftrag, sie aufzuschreiben, hatte er von seinem Abt. Im damals bedeutendsten karolingischen Kloster war negativ aufgefallen: Die kleine klösterliche Gemeinschaft, die am Grab Goars dessen Erinnerung aufrecht erhalten sollte, lebte die Tugenden ihres Vorbilds nur sehr unzureichend. Die Mönche aus der Eifel beschwerten sich beim König. So kam es, dass die Karolinger die Pflege der Grab- und Wallfahrtsstätte den Mönchen in Prüm übertrugen. In ihrem Auftrag entstand eine neue Grabeskirche. 

Ansturm der Wallfahrer

Weil der Ansturm der Wallfahrer immer größer wurde, ersetzte man den Bau um 1100 durch die heutige Stiftskirche. In ihrem romanischen Herzen, der Krypta, fand Goar seine Ruhestätte. Heute ist das dreischiffige Grabgewölbe eines der schönsten Architekturzeugnisse jener Zeit am Rhein. Ein Bild der Frömmigkeit mit Seltenheitswert, das der Region neuen Aufschwung und dem ringsum gewachsenen Dorf 1183 das Stadtrecht einbrachte. 

Kaum ein Jahrzehnt später übernahmen die Grafen von Katzenelnbogen die Macht in und um die Stadt. Mit Geld, das ihnen unter anderem das Zollrecht am Rhein verschaffte, bauten die Grafen die Stifts­kirche aus, die sie 1449 vom Abt in Prüm erworben hatten. Mitte des 15. Jahrhunderts entstand so eine Perle rheinischer Gotik – mit einmaligen Malereien, einem neuen Altar samt Kanzel und Glasfenstern, die zu den ältesten am Rhein gehören. 

Aus jeder Ecke grüßten Heilige, erzählten Männer und Frauen Geschichten. Was heute Laptop, Tablet-PC und Smartphone sind, waren den Menschen des Mittelalters die Kirchenwände und -decken, die Altarbilder und Kanzelreliefs, die Grabplatten und Schlusssteine in den Gewölben. Immer wieder Neues gab es da zu entdecken!

Im Zuge der Reformation wurde die Stiftskirche protestantisch. Zu Neujahr 1528 wurde in St. Goar erstmals evangelisch gepredigt. Für Heiligenverehrung war jetzt kein Platz mehr: Die Wände und Decken wurden übermalt, die Wallfahrten verboten. Goars Grab in der Krypta, deren Zugang man vermauerte und später ganz zuschüttete, verlor an Bedeutung. Der Volksheilige sollte vergessen werden. 

Mitte des 17. Jahrhunderts aber rückte er langsam wieder ins Bewusstsein, als der protestantische Landesherr zum Katholizismus übertrat und erstmals wieder Heilige Messen feiern ließ. Den damals rund 300 Katholiken der Stadt räumte der Landesvater in der Krypta der Stiftskirche einen Platz zum Gottesdienst ein. Kurz danach erkämpften sich diese das Recht, vor den Toren der Stadt eine eigene Kapelle zu bauen, in die sie 1660 die Grabplatte des Volksheiligen überführten. 

Heute liegt die katholische Kirche, Ende des 19. Jahrhunderts im neugotischen Stil grundlegend erneuert, nicht mehr außerhalb der Stadt. Goars Grabplatte dient jetzt als rechter Seitenaltar. Mit einem Lockenkopf zeigt sie den Volksheiligen, der mit seinen Füßen auf einem schwarzen Teufel steht. Die Grabplatte ist das eindrucksvollste Zeugnis seiner Verehrung. Vor dem Gotteshaus fällt ein modernes Denkmal des Volksheiligen ins Auge. 

Katholische und evangelische Kirche verbindet heute eine Fußgängerzone. Gastwirtschaften, Eiscafés,
Weinhändler und Souvenirläden reihen sich in ihr aneinander. Beschilderung und Speisekarten sind oft mehrsprachig, die Ausstattung meist kitschig. Große Kunst dagegen gibt es längst wieder in der Stiftskirche, wo die übermalten gotischen Wandmalereien freilegt sind. Es sind Schmuckstücke von Weltklasse und Teile eines riesigen Bilderbuchs, in dem es sich zu stöbern lohnt. 

Dem Betrachter kann dabei ein Fernglas helfen, rückt es doch Dinge näher, die sonst verborgen blieben: die Ratten etwa zu Füßen der heiligen Gertrud von Nivelles oder die vielen Löwen, die an die Grafen von Katzenelnbogen erinnern, denen das Bauwerk seine Pracht verdankt. Prunkstück ist die renovierte Krypta, deren Treppenaufgang man wieder geöffnet hat – auch als Zeichen dafür, dass Katholiken und Protestanten heute mehr eint als trennt. 

Günter Schenk

03.07.2018 - Deutschland , Heilige , Magazin