Fast lautlos, doch unüberhörbar

Der Papst des Gebets

Eine außergewöhnliche Begegnung am bestgeschützten Ort der Vatikanischen Gärten: Der emeritierte Papst Benedikt XVI. traf sich mit Massimo Franco, einem Redakteur der italienischen Tageszeitung „Corriere della Sera“. Wie der Journalist die Begegnung erlebt hat, beschrieb er jetzt in einem viel beachteten Artikel. Mit freundlicher Genehmigung des „Corriere“ veröffentlicht unsere Zeitung daraus Auszüge, die Redakteurin Romana Kröling für uns übersetzt hat.

„Italien war schon immer ein wunderschönes Land, aber ein wenig chaotisch. Doch am Ende schafft Italien es immer, seinen Weg zu gehen.“ Die Stimme von Papst em. Benedikt XVI. ist kaum mehr als ein Hauchen. Die Worte kommen nur langsam heraus. Doch das, was er sagt, und der aufmerksame Blick zeugen von einer großen Klarheit der Gedanken und einer raschen Auffassungsgabe: beneidenswert bei einem über 90-Jährigen, der als erster emeritierter Papst in die Geschichte eingehen wird. 

In den Vatikanischen Gärten

Es ist ein warmer römischer Nachmittag. Benedikt, leicht erhöht durch ein Kissen, sitzt auf einer Holzbank vor der Ädikula der Gottesmutter, unweit des Klausurklosters inmitten der Vatikanischen Gärten. Hier wohnt er seit Mai 2013, nachdem er sein Pontifikat niedergelegt und für großes Aufsehen gesorgt hat. Er trägt eine weiße Soutane, unter der weiße Socken in braunen Ledersandalen hervorlugen. Am Handgelenk trägt er zwei Uhren, eine davon in modernem Stil, weiß und schwarz, aus Kunststoff.

Ihm gegenüber, auf einer anderen Bank, sitzen wir mit Erzbischof Georg Gänswein. Der Präfekt des Päpstlichen Hauses, zugleich Benedikts Privatsekretär, steht wie kein anderer geradezu symbolisch für die Beziehung zwischen Papst Franziskus und seinem Vorgänger.  

Im bestgeschützten Winkel

Die Bewachung ist diskret, aber gut sichtbar. Um in den tiefsten und bestgeschützten Winkel des Kleinstaats im Herzen der italienischen Hauptstadt zu gelangen, musste sich das kleine blaue Auto mit dem Vatikan-Kennzeichen SCV, das von einem hünenhaften Schweizergardisten in Zivil gesteuert wurde, durch enge Kehren schlängeln, hindurch zwischen Rosen, Brunnen, Altären,  jahrhundertealten Bäumen und riesigen Kakteen. An jeder Kurve der sauberen und fast ausgestorbenen Wege stand ein vatikanischer Wachmann, ausgestattet mit Funkgerät und Ohrstecker.

Den emeritierten Papst zu treffen, ist ein seltenes Privileg geworden – auch im Vatikan. Sein letzter öffentlicher Auftritt liegt drei Jahre zurück: am 28. Juni 2016 in der Sala Clementina im Apostolischen Palast. Franziskus wandte sich damals zum 65. Priesterjubiläum mit einer herzlichen Rede an seinen Vorgänger und Jubilar. Das kleine Kloster, in das sich Benedikt zurückgezogen hat, sei „alles andere als eine dieser vergessenen Ecken, in die die Wegwerfkultur Menschen gerne abschiebt, wenn im Alter ihre Kräfte schwinden“. 

Er bringt es auf den Punkt

Es ist schon paradox: Je mehr sich der emeritierte Papst zurückzieht, ja fast schon unsichtbar macht, weil sein Körper gebrechlicher wird, desto mehr stößt jedes seiner Worte auf ein mächtiges, meist unerwartetes Echo. Vielleicht, weil seine Worte von überraschender Klarheit sind und er das auf den Punkt bringt, worüber es in der Kirche die meisten Meinungsverschiedenheiten und strittigsten Fragen gibt.

Um Benedikt außerhalb seines klösterlichen Domizils zu erwischen, muss man in die abgeschiedensten Winkel der vatikanischen Gärten vordringen. An dem einen oder anderen Nachmittag haben die Geistlichen, die im Vatikan wohnen, die Gelegenheit, einen Blick auf ihn zu erhaschen, wenn er auf der Bank sitzt, bei der wir ihn getroffen haben, oder auf einer anderen, hinter der Lourdes-Grotte, einer in Stein gehauenen Kapelle, wo er hin und wieder hingeht, um sich langsam hinzuknien und den Rosenkranz zu beten. 

Voll Neugier und Frische

Aus der Ferne ist er dann nur als weißer Fleck umrahmt vom Dunkelgrün der Bäume wahrzunehmen. Ein kleines Golfcart wartet stets in respektvollem Abstand darauf, dass er seinen kurzen Spaziergang und seine Meditationen beendet. Wie immer begleitet ihn Erzbischof Gänswein. Und obwohl Benedikt abgemagert und gebrechlich wirkt, beweist er doch immer wieder seine intellektuelle Neugier und geistige Frische. 

Auf der kleinen Anhöhe, die umschlossen ist von den vatikanischen Mauern, kommt es einem so vor, als sei das säkulare Rom, das man im Hintergrund, nur wenige hundert Meter entfernt, erahnen kann, tausende Kilometer entfernt. Und auch Benedikt scheint weit weg von allem. Seine Hände sind schmal und abgemagert, fast schon durchsichtig: so sehr, dass der Bischofsring, den er am Ringfinger trägt, viel zu groß und viel zu schwer zu sein scheint. Das Erzbistum München und Freising hat ihm den Ring 1977 zum Amtsantritt geschenkt.

Der Tagesablauf von Benedikt ist immer gleich

Benedikts Leben folgt fast immer dem gleichen Tagesablauf. Im Kloster Mater Ecclesiae, das früher die Leitung von Radio Vatikan beherbergte und später von Johannes Paul II. zur Klausur erklärt wurde, wohnt er mit vier Mitgliedern der Laienvereinigung „Memores Domini“ und Erzbischof Gänswein. Tagsüber kommt Benedikts Sekretärin Birgit, um dem emeritierten Papst bei Schreibarbeiten zu helfen.

Der Tag beginnt früh, mit einer Heiligen Messe um 7 Uhr. Nach dem Frühstück erledigt Benedikt seine Korrespondenz, beantwortet Briefe oder lässt sie beantworten. Und er empfängt, zuletzt immer seltener, diejenigen, die ihn sprechen wollen. Der emeritierte Papst liest Bücher und einige italienische und deutsche Zeitungen. Er hört klassische und geistliche Musik. Manchmal setzt er sich nach dem Abendessen ans Klavier und spielt, nachdem er die Nachrichten im Fernsehen angeschaut hat. 

Am Samstagnachmittag lässt er sich manchmal laut aus einem Buch vorlesen, auf das er besonders neugierig ist. Inmitten all dieser Routine entgeht ihm nichts von dem, was in der Kirche vor sich geht. Er hat die Gelegenheit, mit Franziskus zu sprechen oder sich gar mit ihm zu beratschlagen. Hin und wieder sucht Franziskus ihn auf. Nicht immer dringen die Treffen an die Öffentlichkeit.

„Weiser Großvater“

Zu Beginn dieses ungewöhnlichen Zusammenlebens zweier Päpste sagte Franziskus über Benedikt, er sei wie ein „weiser Großvater“ für ihn – auch wenn zwischen den beiden nur neun Jahre Altersunterschied liegen. Es ist eine Beziehung, die auf gegenseitigem Respekt und Aufrichtigkeit basiert. Und auf der stillschweigenden Übereinkunft, nach der Franziskus der „Papst der Tat“ und Benedikt der „Papst des Gebets“ sei, wie Benedikt öfter erwähnt.

In einigen Nuntiaturen, wie die Botschaften des Heiligen Stuhls im Ausland genannt werden, und in der einen oder anderen Vatikanbehörde hängt an der Wand sowohl das Foto von Franziskus als auch das von Benedikt. Und das ist nicht nur eine Frage der Nostalgie, sondern der Ausdruck der gegenwärtigen Realität mit all ihren Aspekten – auch teils offenen Fragen.

Benedikt: "Es gibt nur einen Papst"

Benedikt hat Bestrebungen von Franziskus-Gegnern, ihn als eine Art alternativen, spirituellen und moralischen Führer darzustellen, stets zurückgewiesen. Er bekräftigt die aufrichtige und herzliche Beziehung zu Franziskus – trotz der deutlichen Unterschiede in Persönlichkeit sowie Herangehensweise an die Lehre und die Liturgie. Personen, die sich von Benedikt eine kritische Aussage zu Franziskus erhofften, bekommen zur Antwort: „Es gibt nur einen Papst – und der heißt Franziskus.“

Die Zeit ist verflogen. Benedikt steht auf und verabschiedet sich, mit einem leichten Winken seiner Hand. Das Auto, in das er mühsam steigt, verschwindet lautlos hinter der Kehre.

10.07.2019 - Papst , Vatikan