Zeuge der Wende

„Der Staat mochte uns nicht“

30 Jahre sind vergangen, seit die DDR mit dem 3. Oktober 1990 aufhörte zu existieren. Johannes Magiera war 15 Jahre lang – von 1983 bis 1998 – Pfarrer im Wallfahrtsort Neuzelle und hat als solcher auf dem ehemaligen Klostergelände die letzten Jahre der DDR und die turbulente Zeit nach der Wende miterlebt.

„Ich stamme aus dem alten Erzbistum Breslau und wurde in der Nähe des Doms groß“, erzählt Magiera im sächsischen Wittichenau, wo er seit über 20 Jahren Seelsorger ist. Geboren wurde er 1935. In Folge des Zweiten Weltkriegs musste die Familie Schlesien verlassen. Ihr wurde das thüringische Gotha zugewiesen. Magiera studierte nach dem Abitur erst Griechisch und Latein, danach katholische Theologie. Die letzte Phase seiner Ausbildung fand im Pastoralseminar zur Vorbereitung auf den seelsorglichen Dienst in Neuzelle statt.

„Die Lehre ist allmächtig“

Bis 1989 stand an der linken Fassade des Klosters: „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie richtig ist.“ 1956 gab es Auseinandersetzungen mit dem ebenfalls dort angesiedelten Lehrerseminar. Und – so Magiera – „nicht nur einmal wurden von der kommunistischen Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ) die Wallfahrten vor den Augen des Bischofs mit entsprechenden Aufmärschen gestört“. 

Nach verschiedenen Stationen als Kaplan kam Johannes Magiera in die St.-Benno-Gemeinde nach Spremberg – eine der vielen Missionspfarreien im Osten Deutschlands, zu denen auch Guben, Cottbus oder Lübben gehören. Der 2007 verstorbene Bischof Bernhard Huhn aus Görlitz forderte ihn damals auf, sich für die vakante Stelle in Neuzelle zu bewerben. 

Arbeitskräfte und Handwerker von DDR vereinnahmt

Als er an den Wallfahrtsort zurückkehrte, war das historische Kloster nicht im besten Zustand. „Aber weder dort noch in der Kirche ging es mit den Renovierungsarbeiten voran“, erinnert sich Magiera, „weil es an Materialien fehlte oder weil gerade in Ost-Berlin der Palast der Republik gebaut wurde und alle Arbeitskräfte und Handwerker vereinnahmte.“

Am Beginn seiner Zeit als Pfarrer von Neuzelle war ein Viertel der Einwohner katholisch, ein Viertel evangelisch, der Rest konfessionslos. Magiera betreute rund 750 Christen. „Der DDR-Staat mochte uns nicht, aber Märtyrer waren wir nicht. Die Machthaber gingen davon aus, dass sich das Thema Kirche und Religion irgendwann von selbst erledigen wird. Aber weil wir Christen integraler Bestandteil der Gesellschaft waren, mussten sie uns akzeptieren.“

Überwachter Weihnachtsgottesdienst 

Einmal im Monat war die Kirche sogar für eine Stunde im Rundfunk präsent. „Wir mussten den Weihnachtsgottesdienst schon im Juni aufnehmen, damit alles überprüft und im Zweifelsfall korrigiert werden konnte“, erinnert sich Magiera. „Und es gab diese Sonderfälle der Seelsorge, wo sich der Staat auch zurückhielt.“ Die „religiösen Kinderwochen“ in den Sommerferien zum Beispiel. „Das war Glaubensverkündigung, die der Staat nicht gern sah – aber hinnahm.“

In den Monaten vor dem Mauerfall bekamen auch die katholischen Jugendlichen in Neuzelle Schwierigkeiten mit dem Staat, als sie sich den Spruch „Schwerter zu Pflugscharen“ auf ihre Jacken hefteten. „1989 zogen dann auf Initiative des evangelischen Pfarrers Mitglieder beider Kirchen mit Kerzen durch den Ort – mit anschließendem Gottesdienst in unserer Kirche.“ 

Provokation pur: Der Text der DDR-Nationalhymne

Dass die Teilnehmer dabei die DDR-Nationalhymne sangen, war für die Marxisten in der Nachbarschaft Provokation pur. „Da knallten die Fenster zu.“ Pfarrer Magiera verteilte vorab den Text, weil viele Menschen ihn gar nicht mehr kannten. Offiziell durfte der Text nämlich nicht mehr gesungen werden – schließlich ist darin von „Deutschland, einig Vaterland“ die Rede. 

„Die DDR-Hymne bekam in jenen Monaten für die Menschen eine neue Qualität“, sagt Johannes Magiera. Während er den Liedtext von Johannes R. Becher zitiert, gerät bei der letzten Strophe der Hymne seine Stimme ins Stocken. Bei den letzten Zeilen versagt sie ihm fast ganz. Er ist vom Gedenken an die bewegte Zeit übermannt. Tränen füllen seine Augen. 

Deutschland: ein Staat

„Es gab Unklarheit über die Zukunft“, ruft Magiera die Wendezeit in Erinnerung. „Einige wollten eine bessere DDR – das war ein Ideal besonders bei evangelischen Christen.“ Dem katholischen Pfarrer hat das nicht gereicht: „Ich wollte Deutschland wieder als einen Staat haben.“ Am Tag der Einheit, erinnert er sich, sei mitunter sogar von Geistlichen halbmast geflaggt worden, Kirchen waren verschlossen. 

„Hier in Neuzelle war ich mir mit meinem evangelischen Amtsbruder einig: Wir feiern das!“ Zusammen gingen sie zum Fahnenwechsel und sangen gemeinsam beide deutschen Nationalhymnen – nun also auch „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Ein gut besuchter ökumenischer Dankgottesdienst am Nachmittag in der Stiftskirche rundete den historischen Tag würdig ab.

Hoffnung auf Wiedervereinigung steckte in Kirchturmkugel

Bevor Magiera 1998 nach Wittichenau im Bistum Görlitz wechselte, stand die Restaurierung des Neuzeller Kirchturms an. Die goldene Kugel, die die Turmspitze geziert hatte, kam ins Pfarrhaus. Als sie geöffnet wurde, fand man darin das Schreiben eines früheren Pfarrers, das dort offenbar nach dem Zweiten Weltkrieg deponiert worden war. „Der Pfarrer drückte darin seine Hoffnung aus, dass Deutschland bald wieder einig werde.“ Eine Hoffnung, die erfüllt wurde.

Rocco Thiede

03.10.2020 - DDR , Kirche , Priester