Pflegende Jugendliche

Die Last eines Lebens

Lana Rebhan ist 15 Jahre alt und führt in ihrer Familie den Haushalt fast allein. Ihr Vater ist schwerkrank, ihre Mutter muss arbeiten. Sie ist mit diesem Schicksal nicht allein. Hunderttausende Kinder und Jugendliche in Deutschland kümmern sich um pflegebedürftige Angehörige.

Lanas Mutter Katharina steht früh morgens am Bett ihrer Tochter. „Papa hatte einen Herzinfarkt“, sagt sie. Dass ein Krankenwagen kommt und ihren Vater mitnimmt, kennt die Schülerin. „So schlimm das jetzt klingt: Man gewöhnt sich an alles. Und daran auch“, sagt die 15-Jährige. An diesem Morgen im September 2018 weiß sie schon, dass sie sich in den nächsten Wochen und Monaten um den Haushalt kümmern muss – meist allein und immer in Sorge um ihren kranken Vater Jürgen. Er leidet an Zystennieren, und die Krankheit hat massive Auswirkungen auf seinen ganzen Körper.

Der Zustand kann sich jederzeit verschlechtern

Wenn Lana von der Schule nach Hause kommt, putzt, kocht, wäscht oder bügelt sie. An guten Tagen, wenn ihr Vater Jürgen wenig Schmerzen hat, kann er ihr helfen zu kochen oder ans Telefon gehen. An schlechten Tagen verbringt er die meiste Zeit auf dem Sofa in der kleinen Wohnküche und schafft es ohne fremde Hilfe nicht einmal, die wenigen Schritte zur Küchenzeile zu gehen. Sein Zustand kann jederzeit so schlecht werden, dass er ins Krankenhaus muss. Dann „kann es sein, dass ich monatelang den ganzen Haushalt quasi alleine führe“, sagt Lana. Tagsüber ist dann niemand da, der ihr hilft oder zuhört, wenn sie sich Sorgen macht. Ihre Mutter muss bis abends arbeiten.

Lana lebt mit ihrer Mutter und ihrem Vater in der bayerischen Kleinstadt Bad Königshofen und ist eine junge Pflegende. Young Carer lautet der englische Fachbegriff für Menschen wie sie – Kinder und Jugendliche, die sich regelmäßig und intensiv um pflegebedürftige Fami­lienmitglieder kümmern.

Ein Kind pro Schulklasse

Nach einer Studie des Zentrums für Qualität in der Pflege versorgen und pflegen rund fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen zehn und 17 Jahren regelmäßig ihre Angehörigen. Hochgerechnet sind das 230 000 junge Menschen in ganz Deutschland – statistisch gesehen also etwa ein Kind in jeder Schulklasse. Ein Bericht des Bundesministeriums für Gesundheit schätzt die Zahl der jungen Pflegenden in der Altersgruppe zwischen zehn und 19 Jahren sogar auf 479 000.

Die Aufgaben dieser jungen Menschen können ganz unterschiedlich sein. „Manche müssen bei ihren Eltern auch die Windeln wechseln“, sagt Lana. Das bleibt ihr erspart. Die 15-Jährige sieht aus wie viele Mädchen in ihrem Alter: schmale Figur, schulterlange glatte Haare, Zahnspange. Im Interview wirkt sie erst zurückhaltend, erzählt dann aber immer lebhafter von jungen Pflegenden. Ein Thema, das einen großen Teil ihres Alltags einnimmt. Hobbys, sagt sie, habe sie keine; Treffen mit ihren Freundinnen seien schwer planbar und oft kaum möglich – schon gar nicht über Nacht, da sich in dieser Zeit niemand um ihren Vater kümmern würde.

Schmerzen begleiten den Alltag

Jürgen Rebhans Zystennieren sind eine Erbkrankheit, durch die die Nieren anschwellen und mit Zysten übersät sind. Sie funktionieren nicht mehr richtig und drücken auf andere Organe wie Speiseröhre oder Darm. Seitdem der Familien­vater 2012 mit Nierenversagen ins Krankenhaus gebracht wurde, gehören längere Aufenthalte dort zu seinem Leben. Im vergangenen September lag der 52-Jährige nach einem Herzinfarkt zwei Monate auf der Intensivstation. Bis er sich vollständig erholt hatte, dauerte es bis Mitte März. 

Dreimal in der Woche muss er zur Dialyse, danach muss er sich ausruhen. An seinem eingefallenen Gesicht und den müden Augen kann man erkennen, wie geschafft er durch die Behandlung ist. Fast ohne Körperspannung sitzt er am Küchentisch. „Seitdem eine Niere raus ist, ist es wieder okay – erst mal“, sagt Jürgen Rebhan. Er steht auf keiner Spenderliste, er wollte das nicht. Auch eine Spenderniere seiner Frau will Rebhan nicht. „Es gibt eine Restwahrscheinlichkeit, dass Lana auch von der Erbkrankheit betroffen sein könnte“, erklärt Katharina Rebhan. In diesem Fall könne sie ihrer Tochter eine ihrer Nieren spenden.

Durch die Schmerzen habe ihr Vater häufig schlechte Laune und streite sich mit ihr, erzählt Lana. Sie könne dann kaum einschätzen, ob das an seinen Schmerzen liege oder ob sie etwas falsch gemacht habe. „Natürlich belastet und stresst das einen noch zusätzlich“, sagt die 15-Jährige. Trotzdem stehen Mutter, Vater und Tochter eng zusammen.

Durch die Krankheit hat sich die Rollenverteilung in der Familie verändert. Lana sei erwachsener und verantwortungsbewusster geworden, sagt ihre Mutter. Auch die Rollen der Eltern haben sich gewandelt. Früher arbeiteten beide, Katharina als Verkäuferin und Jürgen als Lagerist. Seit sechs Jahren ist er Frührentner. 

Sozialhilfe keine Lösung

Als die Krankheit begann, gab auch seine Frau ihren Job auf, um sich um ihre Familie kümmern zu können. Die Rebhans lebten von Hartz IV. Doch Katharina merkte, dass dieses Modell auf Dauer schwierig wird: „Dann gehen die einen Probleme weg und die anderen kommen. Es nutzt nichts, wenn wir alle drei auf dem Sofa sitzen und dann das Auto kaputt geht und wir können es nicht bezahlen.“

Seit drei Jahren hat sie nun gleich zwei Jobs: Die 39-Jährige arbeitet in einem Immobilienbüro und als Heilpraktikerin für Psychotherapie. Oft kommt sie erst gegen 18 Uhr oder später nach Hause. Lana und ihre Mutter kochen dann gemeinsam und haben Zeit, sich zu unterhalten. Anschließend kann die 15-Jährige ihre Hausaufgaben machen. Meistens schaffe sie alles, sagt sie: „Manchmal fällt aber auch etwas hinten runter, was nicht hinten runterfallen sollte. Einfach, weil es zeitlich nicht mehr klappt“, sagt sie. Ihre Lehrer hätten Verständnis für ihre Situation.

Drohendes Schul-Aus

Die achte Klasse des Gymna­siums hat Lana Rebhan wiederholt, weil ihr Vater eine Niere entfernt bekommen hatte. Eine Operation, die sie „komplett aus der Bahn geworfen hat“, sagt sie. Sie konnte sich aus Sorge um ihren Vater nicht mehr konzentrieren. Noch einmal sitzen bleiben dürfe sie nicht, da man in Bayern das Gymnasium verlassen müsse, wenn man dasselbe Schuljahr zweimal nicht schafft, sagt ihre Mutter. Lana aber droht genau das. Daher sucht sie nach Ausbildungsstellen in Teilzeit, beispielsweise als Steuerfachangestellte, um gleichzeitig eine Berufsausbildung und den Realschulabschluss zu machen.

Ihr Traum wäre es, später Vorträge über das Thema junge Pflegende zu halten und damit Kindern und Jugendlichen in der häufig einsamen und anstrengenden Situation zu helfen, sagt Lana. Als sie vor einigen Jahren selbst nach Beratungsstellen suchte, um mit jemandem zu sprechen und nicht allein zu sein, habe sich niemand für sie zuständig gefühlt, sagt die 15-Jährige.

Die Probleme junger Pflegender bekannt machen

„Young Carer verdienen Respekt von der Gesellschaft“, sagt die Schülerin und klingt dabei fast wie eine Politikerin. Ihr Ziel: die Probleme von jungen Pflegenden bekannt machen. Sie sei dabei auf einem guten Weg, sagt sie selbst. Im März sprach sie als Sachverständige im Bayerischen Landtag über ihre Situation. „Vielen Politikern war das Thema überhaupt nicht bewusst, sie haben sich aber sehr betroffen gezeigt“, sagt Lana. Konkrete Konsequenzen seien aber nicht beschlossen worden, bedauert sie. Doch sie bleibt optimistisch: „Dass man das einfach mal angesprochen hat, ich denke, das wird schon was ändern“, sagt sie.

Lana weiß, wie mühsam Veränderungen sein können. Und sie weiß auch, wie sehr sie manchmal schmerzen. Die Krankheit ihres Vaters ist nicht aufzuhalten. Die Zysten an seinen Nieren könnten jederzeit aufplatzen und er innerlich verbluten. Auch eine Blutvergiftung und Herzinfarkte oder Schlaganfälle aufgrund des zu hohen Blutdrucks seien möglich. 2012 haben Ärzte prognostiziert, dass Jürgen Rebhan vielleicht noch drei Jahre leben werde. „Papa wird irgendwann mal daran sterben“, sagt Lana. „Man kann die Krankheit nicht wegmachen.“

Christoph Brüwer

24.07.2019 - Behinderung , Deutschland , Jugend , Politik