Die Suche nach Pontius Pilatus’ Amtssitz

Wo wurde Christus verurteilt?

Seit dem Mittel­alter lokalisiert die christliche Tradition die Anklage und Verurteilung Jesu durch Pontius Pilatus bei der antiken Festung Antonia. Archäologen sind anderer Meinung: Sie weisen auf den Palast des Königs Herodes.

In der Altstadt von Jerusalem, beim Jaffator, reckt sich ein trutziges Bauwerk wie ein mahnender Zeigefinger zum Himmel: die
David-Zitadelle. Ihre Türme und Mauern stammen aus verschiedenen Epochen: von den vorchristlichen jüdischen Hasmonäern bis zu den türkischen Osmanen, die das Heilige Land bis zum Ersten Weltkrieg beherrschten.

Auch König Herodes hatte hier seinen Palast. Er war mit drei Türmen befestigt. Der eine trug den Namen seiner Frau Mariamne. Der zweite war nach Herodes’ Bruder Phasael benannt, und der Hippicus-Turm sollte das Andenken seines Freundes bewahren. Reste davon mit den typischen Bossenquadern sind heute noch erhalten. 

Im Leben Jesu spielte der herodia­nische Prachtbau schon früh eine Rolle. Als die Weisen aus dem Morgenland nach Jerusalem kamen und bei Herodes nach der Geburt des künftigen jüdischen Königs fragten, dürften sie dort vorstellig geworden sein. 

Seit Anfang 2015 können Jerusalem-Besucher die Überreste des Herodes-Palasts besichtigen. „Wir fanden die Stützmauern des Palasts und ein verzweigtes Abwassersystem“, erklärt der israelische Archäologe Amit Re’em. „Der Historiker Josephus Flavius spricht von Ritualbädern dort und Schwimmbecken. Herodes liebte Wasser.“ Eine breite Mauer erwies sich als einstige Umfassungsmauer des Königspalasts. 

Herodes’ Swimmingpool

Er soll demnach eine Ausdehnung von rund 300 auf 150 Meter gehabt haben. Der Bau liegt heute zum größten Teil unter dem armenischen Viertel verborgen. 17 antike Steinstufen führen zu den Überresten des herodianischen Swimmingpools. „Sie sind ganz ähnlich den Stufen des vor wenigen Jahren entdeckten Siloah-Teichs, wo Jesus den Blindgeborenen heilte“, sagt Re’em. 

„Den Luxus eines Schwimmbads von 23 Metern Länge und sieben Metern Breite konnte sich im wasserarmen Jerusalem nur der verschwenderische Herodes leisten“, betont der Archäologe. Museumsführerin Nicole Goldstein-Strassman meint, der Prunkbau müsse „das Fünf-Sterne-Hotel von Jerusalem“ gewesen sein. Schon Josephus Flavius notierte im ersten Jahrhundert: „Die Schönheit des Palasts übertrifft noch die des Tempelbergs.“

Matthäus-Evangelium nennt den Ort "Prätorium"

Archäologe Shimon Gibson, Professor an der Universität von North Carolina, ist davon überzeugt, dass die Verurteilung Jesu durch Pontius Pilatus im Palast des Königs von Judäa stattgefunden hat. Das Matthäus-Evangelium nennt den Ort der Anklage Jesu vor dem Statthalter „Prätorium“ (Mt 27,27). Der lateinische Begriff bezeichnete zunächst das Zelt eines Generals in einem Legionslager. 

Später wurde die Bezeichnung auf den Sitz eines Oberbefehls­habers oder des Statthalters einer Provinz übertragen. „Mit Prätorium kann auch die gesamte Palastanlage gemeint sein“, erklärt Gibson. „Im Johannes-Evangelium wird der Prozess in der Nähe eines Tores und auf einem holprigen Steinpflaster beschrieben“, führt der Altertumswissenschaftler weiter aus. 

„Es ist natürlich keine Inschrift vorhanden, die besagt, dass es hier geschehen ist“, gibt Gibson zu. „Aber der archäologische und historische Befund sowie die Evangelien passen wie Puzzleteile in das Gesamtbild.“ Damit wäre in Jerusalem mit dem Herodes-Palast auch einer der wichtigsten Schauplätze der christlichen Geschichte freigelegt. 

Als Jesus von Pilatus zum Tod verurteilt wurde, war König Herodes schon einige Jahrzehnte tot. Jetzt hielten die Römer selbst das Heft fest in der Hand. Judäa war römische Provinz. Pilatus war einer der Statthalter des Reichs, die die Provinz im Auftrag des Kaisers leiteten. Eigentlich residierte er in Caesa­rea an der Mittelmeerküste. Dort hatte Herodes zu Ehren des Kaisers Augustus eine luxuriöse Stadtanlage mit Bädern, Theater, Hippodrom und Hafen erbaut. 

Statthalter residierten im Herodes-Palast

Von Zeit zu Zeit musste der Statt­halter seine Amtsgeschäfte in Jerusalem erledigen. Das hieß: Er hatte dort für Ruhe und Ordnung zu sorgen und konnte mögliche Aufstände im Keim ersticken. Anlässe dazu waren die großen jüdischen Wallfahrtsfeste wie Passah. Bei Josephus Fla­vius und in den Schriften des Philon von Alexandrien ist überliefert, dass Pilatus, wenn er sich in Jerusalem aufhielt, im Herodes-Palast residierte, der „mit Gold, teuren Möbeln und Wasserspielen“ ausgestattet war. 

Die christliche Tradition lokalisiert die Stätte des Prozesses Jesu dagegen seit dem Mittelalter bei der antiken Festung Antonia auf einer ganz anderen Seite der Jerusalemer Altstadt. Nachdem die Franziskaner die Pflege der Heiligen Stätten übernommen hatten, legten sie dort um 1172 die erste der 14 Stationen der Via Dolorosa fest.

Herodes hatte die Festung 37 bis 35 vor Christus mit vier Türmen erbauen lassen. In der den Tempel überragenden Burg war zum steten Ärger der Juden eine römische Garnison stationiert. Vom Stützpunkt Antonia im Nord­osten und dem Palast des Herodes im Südwesten konnte die Besatzungsmacht die Stadt überblicken und – wenn nötig – mit einer kleinen schlagkräftigen Polizeitruppe für Ruhe sorgen. 

Grundmauern der Festung

Der römische Feldherr Titus, der Jerusalem im Jahr 70 einnahm, ließ die Festung völlig niederreißen. Weil sich heute auf dem Burggelände die muslimische Mädchenschule Al-Umariya befindet, konnten dort bislang keine archäologischen Untersuchungen vorgenommen werden. Im südlichen Teil des Hofs sind jedoch noch Grundmauern der einstigen Festung zu sehen. 

Während der Anfangspunkt der Via Dolorosa umstritten ist, gilt der Endpunkt, die Auferstehungskirche, als authentisch: als Ort von Kreuzigung, Tod, Begräbnis und Auferstehung Jesu (siehe Seite 16/17). Zumindest bis Corona kam, wanderten Jahr für Jahr Zigtausende unter dem „Ecce-Homo-Bogen“ hindurch zu der Hinrichtungsstätte Christi. 

Archäologen: Ecce-Homo-Bogen existierte noch nicht

Lange glaubte man, jener römische Steinbogen sei der Ort, an dem Pontius Pilatus Jesus auspeitschen und mit Dornen krönen ließ und wo er ihn der feindseligen Menge mit einem Soldatenmantel um seine Schultern geworfen zeigte. „Ecce Homo“, soll Pilatus gesagt haben: „Seht, der Mensch!“ (Joh 19,5). Die Archäologie hat allerdings längst bewiesen, dass der Bogen damals noch gar nicht existierte. 

Heute weiß man: Er wurde auf Geheiß Kaiser Hadrians nach der Niederschlagung des zweiten jüdischen Aufstands im Jahr 135 als Siegesbogen errichtet. Das zerstörte Jerusalem begründete Hadrian damals als „Aelia Capitolina“ neu. Der Bogen setzt sich durch die Wand der Klosterkapelle des Ecce-Homo-­Klosters der Schwestern von Zion fort. Dort umrahmt der kleine Nordbogen unter einem byzantinischen Kreuz den Tabernakel. Der Südbogen wurde zerstört. 

Römische Steine vermitteln Pilgern Eindruck von damals

Hier beginnt die Spur der Steine, die Jesus tatsächlich gesehen und berührt haben könnte, zu erkalten. Schließlich sind sie unter 20 Jahrhunderten städtebaulicher Entwicklung begraben. Die heutige Via Dolorosa ist natürlich nicht derselbe Weg, den Christus gegangen ist. Um Pilgern einen Eindruck von damals zu vermitteln, hat man einige römische Pflastersteine – rund vier Meter unter der heutigen Oberfläche gefunden – in die „Straße der Schmerzen“ eingefügt.

Das römische Steinpflaster nannten die Griechen „lithostrotos“, die Aramäer „gabbatha“. So bezeichnet das Johannes-Evangelium den Ort, an dem Jesus von Pilatus verurteilt wurde. Einige der aufgefundenen Platten bieten einen faszinierenden Einblick in das Leben römischer Soldaten, die in der Festung Antonia stationiert waren. Manche Platten waren gerillt, um zu verhindern, dass die Pferde darauf ausrutschen.

Ein grausames Spiel

In andere Steine ritzten die Soldaten Linien und Quadrate, um sie in ihrer Freizeit als Spielbretter zu nutzen. Eines der steinernen Spielbretter, das man nahe des Klosters gefunden hat, zeigt eine grobe Krone und den Anfangsbuchstaben B in der Mitte – das griechische Wort „basileus“ für König. Haben die Soldaten hier gewürfelt, nachdem sie zuvor ihr grausames Spiel mit Jesus treiben konnten (Mk 15,16-20)?

Das Kloster der Zions-Schwestern wurde 1857 von Marie-Alphonse Ratisbonne gegründet, einem Franzosen, der vom Judentum zum Katholizismus konvertiert war und Priester wurde. Während des Baus hat man Teile des hadrianischen Siegesplatzes freigelegt. Unterhalb des Platzes befindet sich eine große, aus dem Felsen gehauene Zisterne. Sie ist 54 Meter lang, 14 Meter breit und fünf Meter tief und gehörte zu einem Wassersystem, das die Bürger Jerusalems mit dem kostbaren Nass versorgte.  

Neue Erkenntnisse führen Pilger näher an die Geschichte

„Auch wenn die traditionelle Via Dolorosa seit Jahrhunderten verehrt wird“, erklärt Eilat Lieber, Direktorin des Museums an der David-Zitadelle, „so bleibt doch die Hoffnung, dass die Christen das ‚praetorium‘ am Herodes-Palast zur Ortslage der Verurteilung Jesu machen.“ Bei den Pilgern – sobald sie nach Corona wieder ins Heilige Land strömen – wird diese Erkenntnis trotz aller historischen Argumente das Interesse an der mittelalterlichen, der traditionellen „Straße der Schmerzen“ kaum einschränken.

Mit alten Traditionen zu brechen, fällt schwer. Erst recht wenn man bedenkt, dass seit Hunderten von Jahren Pilger auf der Via Dolorosa gebetet, geweint und gefeiert haben. Auch das heiligt die Straße als Gedenkstätte ersten Ranges – selbst wenn die neuesten Forschungs­ergebnisse geeignet sind, die Menschen noch näher an den Ort der Verurteilung Jesu zu führen. An den Palast des Herodes.  

Karl-Heinz Fleckenstein