Gedenktag am 6. Juli

Ein Mord und viele Wunder

Was Elisabeth von Thüringen für Marburg oder Hildegard für Bingen ist Godeleva für Gistel. In der kleinen belgischen Gemeinde unweit der Nordsee ist die heilige Godelieve zu Hause, wie die Flamen die fromme Frau aus dem elften Jahrhundert nennen. Zwar ist in Gistel alles ein paar Nummern kleiner – echten Pilgern aber ist das in Zeiten, in denen ein gefährliches Virus zum Abstandhalten zwingt, umso gewichtiger. 

Im kleinen Korb vor dem Altar der Klosterkapelle am Rande Gistels häufen sich die Beistandsbitten. Auf kleinen Zetteln haben die Gläubigen ihre Wünsche an Godeleva notiert. Es sind Bitten, gesund zu bleiben. Kinder, Mann und Verwandte vor Corona zu verschonen. Oder schnell zu helfen, weil einer im Krankenhaus mit dem Tod ringt. Es ist der Glaube, der die Menschen in die Abtei Ten Putte vor den Toren Ostendes treibt.

Weit offen steht die Tür zum Kloster. Dahinter säumen eine Handvoll weiß gekalkter Gebäude einen kleinen Park: Kapellen, Kirche, Museum, Besucherzentrum und andere Bauten. Errichtet um den Ort, an dem die heilige Godeleva 1070 den Märtyrertod starb. Mit einem Strick ließ sie ihr Ehemann von zwei Dienern erdrosseln und anschließend ins Wasser werfen. Schon 14 Jahre später erhob ein Bischof Godelevas Gebeine, was damals ihrer Heiligsprechung gleichkam.  

Kult um Godeleva

Im Museum der Abtei erzählt man ihre Geschichte und die des Klosters. Ein Triptychon aus der Mitte des 16. Jahrhunderts kündet von Godelevas wundersamen Werken. Auch ein Film, alte Bücher, Gemälde und liturgisches Gerät illustrieren den Kult um die Heilige, zu dem vor allem eine seit 1459 bezeugte Prozession gehört. Heute zieht sie jährlich am Sonntag nach dem 5. Juli durch Gistel. Mehrere 100 Figuranten, wie die Darsteller religiöser Szenen in Flandern heißen, hauchen Godelevas Leben Gestalt ein, führen den Neugierigen am Straßenrand vor Augen, was für eine großartige Frau sie war. 

Schon früh hatten Biografen und Legendenschreiber an ihrem Mythos gestrickt und ihr symbolisch gleich vier Kronen aufgesetzt, mit denen sich Godeleva bis heute auf vielen Darstellungen zeigt. Sie stehen für ihre Identität, die sich aus vier entscheidenden Lebensabschnitten zusammengefügt hat: Jungfrau, Ehefrau, verstoßene Gemahlin und Märtyrerin.  

Godeleva – übersetzt „Die Gott Liebende“ – stammte aus der Nähe von Boulogne-sur-Mer, einer Hafenstadt im Norden Frankreichs. Sie war eine Adlige, die nach dem Willen ihrer Eltern auch einen Edelmann zum Mann haben sollte. Die Brautschau gewann, wie man in Gistel augenzwinkernd erzählt, schließlich der Bewerber mit dem größten Vermögen: Bertolf (Berthold) von Gistel, der Sohn des dortigen Burg­herrn.

"Krähenwunder"

Gleich nachdem er bei seinen künftigen Schwiegereltern um Godelevas Hand angehalten hatte, so geht die Erzählung weiter, machte er sich mit seiner Zukünftigen auf den Heimweg. Für die Jungfrau aber wurde der zum Leidensweg, war die Liebe zu Bertolf unterwegs doch in Hass umgeschlagen. Den Grund für die Gefühlswende verschweigen die Biografen. Vermutlich hatte sich der Edelmann der Jungfrau nicht ganz so ritterlich genähert, wie sie das als fromme Frau erwartet hatte.

Dass die Beziehung der beiden auch nach der Hochzeit nicht besser wurde, lag an Godelevas Schwiegermutter, die von Anfang an gegen die Verbindung gewesen sein soll. Kein Wunder, dass sie ihre Schwiegertochter Tag für Tag schikanierte. Davon erzählt unter anderem eine lange nach Godelevas Tod ersonnene Wundergeschichte, nach der sie regelmäßig die Krähen von den frisch eingesäten Kornfeldern verjagen musste. Eines Tages hätten sich die Vögel auf ihre Bitte hin in einer Scheune versammelt, sodass sie in Ruhe in der benachbarten Kapelle beten konnte. Als „Krähenwunder“ reihte sich die Geschichte in den Reigen der vielen mittelalterlichen Legenden um Godeleva ein.

Solche und ähnliche Wundertaten jedenfalls nährten Bertolfs Glaube, Godeleva sei eine Hexe – eine Ansicht, die seine Mutter kräftig schürte. Als sich Godelevas Eltern, die von der Behandlung ihrer Tochter bitter enttäuscht waren, beim zuständigen Bischof und Flanderns Graf über ihren Schwiegersohn beschwerten, forderten die staatlichen und kirchlichen Autoritäten Bertolf auf, seine Frau besser zu behandeln. 

Schon wenig später vermeldete er stattdessen ihren Unfalltod. Während einer Reise sei sie in einen Teich gestürzt. Dass seine Knechte sie vorher erwürgt hatten, verschwieg er. Bald darauf freilich kam die Wahrheit ans Licht, gab es die erste Godeleva-Biografie. Drogo, ein Mönch aus dem bei Dünkirchen gelegenen Kloster Sint-Winoksbergen, hat sie geschrieben, angeblich auf lange Gespräche mit Verwandten und Bekannten der Ermordeten gestützt. 

„Heiliges Hemd“

Dass Godeleva in Flandern viele Verehrer hat, liegt sicher auch an einem nahtlosen Hemd, das seit 1896 in der Abtei Ten Putte zu sehen ist und Betrachter an den Heiligen Rock in Trier erinnert. Der Legende nach soll es Godeleva nach ihrem Tod aus einem einzigen Faden für ihren Ex-Mann gefertigt und ihn so dazu gebracht haben, sein nicht gerade tadelloses Leben und den Mord an ihr zu bereuen. Wissenschaftliche Untersuchungen des Hemds – es hängt heute in einer eigenen Kapelle hinter Glas – können freilich nur belegen, dass es aus dem achten Jahrhundert stammt.

Immer neue und spannende Erzählungen mittelalterlicher Legendenschreiber machten aus dem einstigen Tatort vor Gistels Toren schließlich einen Wallfahrtsort, an dem sich schon bald Benediktinerinnen niederließen. Nachdem ihr Kloster im Rahmen der Konfessionskriege 1578 zerstört wurde, gründeten die Schwestern in Brügge ein knappes halbes Jahrhundert später in Godelevas Namen eine neue Abtei. Erst 1891 kehrte ein Dutzend Schwestern ins wiederaufgebaute Ordenshaus nach Gistel zurück. Inzwischen haben die Benediktinerinnen einer kirchlich anerkannten Friedensgemeinschaft Platz gemacht, die sich jetzt um Wallfahrer und Besucher kümmert. 

Den meisten Zulauf hat ein kleiner Kuppelbau neben der Klosterkirche mit einem großen, der Mitte des 17. Jahrhunderts entstammenden Brunnen. Er steht für den Teich, in den Godeleva geworfen wurde. Der Brunnen verweist zudem auf eine weitere Legende, die als Stifterin der Abtei Edith nennt, die blind zur Welt gekommene Tochter Bertolfs, der schon bald nach dem Auftragsmord wieder geheiratet hatte. Nachdem Edith ihre Augen mit Wasser aus dem Teich benetzt hatte, konnte sie angeblich wieder sehen. 

Hilfe bei Augenleiden

Noch heute versprechen sich Pilger bei Augenleiden von Godeleva Hilfe. Dafür sind auch die Wasserhähne unter der mit Darstellungen von anderen Wundern verzierten Kapellenkuppel gedacht, die der Heiligen zugeschrieben werden. Wer ihre Reliquien sucht, muss allerdings zurück in die Stadt: in die  neogotische Onze-Lieve-Vrouw-Hemelvaartkerk in Gistel. Dort haben ihre sterblichen Überreste im rechten Seitenschiff Platz gefunden: in einem vergoldeten Kupferschrein von 1913. 

1970 haben Wissenschaftler der Universität Löwen die darin aufbewahrten Knochen untersucht und sie als Reste einer maximal 25-jährigen Frau von gut 1,65 Meter Größe identifiziert. Dazu passt auch der Schädel, der in einem eigenen Holzschrein aus dem frühen 19. Jahrhundert Platz gefunden hat. 

Godelevas Leben illustrieren in der Kirche neben den großen bunten Fenstern zahlreiche Bilder mit Wunderdarstellungen aus dem 18. Jahrhundert und ein Barockaltar, dessen Gemälde den grausamen Tod der jungen adeligen Ehefrau zeigt. Ein Mord, der sie zur Märtyrerin machte.

Günter Schenk

Informationen

Gistel liegt bei Ostende. Das Klostermuseum, Abdijstraat 84, ist gewöhnlich von April bis September nachmittags geöffnet, im Winterhalbjahr außer Januar nur sonntagmittags. Die Onze-Lieve-Vrouw-Hemelvaartkerk findet sich in der Kerkstraat 10 und steht auf alle Fälle sonntags und samstags zu den Gottesdienstzeiten offen. Informationen auf Niederländisch oder Französisch: www.godelievevangistel.be