Trisomie 18

Ein paar Momente in der Sonne

„Wollen Sie das Ihrem Kind und sich selbst wirklich antun?“ Diese Frage stellt ein Pränatalmediziner im Juni 2001 einem jungen Paar, das im achten Schwangerschaftsmonat zu einer Ultraschalluntersuchung in seine Praxis gekommen ist. Er sagt schwerste Behinderungen bei dem Kind voraus und rät zur Abtreibung. Die Eltern sind schockiert und verunsichert. Dennoch wissen sie: „Wir wollen unser Kind – genau so wie es ist.“

Jaël wird 13 Jahre alt. Ihre Eltern, Shabnam und Wolfgang Arzt, berichten von einer glücklichen Zeit: „Die Jahre mit unserer Tochter sind für uns wie ein kostbares Geheimnis, das wir gar nicht endgültig in Worte fassen können“, schreiben sie in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Umarmen und loslassen“. Das in Solingen lebende Ehepaar nimmt den Leser mit auf eine emotionale Reise, die ihn „viele kleine Tode“ miterleben lässt, aber auch bereichernde und glückliche Momente für Jaëls Eltern, Großeltern und Freunde.

Jaël kommt im September 2001 zur Welt. Sie hat das sogenannte Edwards-Syndrom, auch Trisomie 18 genannt. Die meisten Kinder mit dieser Entwicklungsstörung könnten nur wenige Monate leben, warnen die Ärzte. Tödlich sei sie immer. Nach drei Wochen in der Klinik wird die kleine Familie entlassen. Ausgestattet mit einem Überwachungsmonitor, der Alarm schlägt, wenn Jaëls Atmung aussetzt, und mit den Erfahrungen eines Crashkurses in Wiederbelebungsmaßnahmen.

„Bereits auf den ersten Metern straucheln wir“, schildert Wolfgang Arzt. „Nicht nur, dass wir alle Hände voll haben mit dem Kind im Maxi-Cosi, Gepäck und Gerätschaften. Jetzt meldet sich auch der Überwachungsmonitor laut. Mitten auf dem Weg. Erster Atemaussetzer in Freiheit. Panikanfall zu zweit.“ Doch Jaël übersteht nicht nur den Weg nach Hause, sie überwindet auch weitere Atemaussetzer, sechs schwere Lungenentzündungen und die künstliche Ernährung über eine Magensonde.

Das Mädchen fährt mit seinen Eltern auf sechs Jugendfreizeiten nach Dänemark und Griechenland, die Wolfgang als Jugendreferent seiner evangelischen Kirchengemeinde leitet, fliegt in den Urlaub in die Türkei und zum Therapieschwimmen mit Delfinen nach Spanien. Jaël übersteht Jahr um Jahr, feiert Geburtstag um Geburtstag und trotzt damit der düsteren Prognose der Geburtsmediziner.

Jaël ist ein liebevolles Kind, das die Fürsorge seiner Eltern mit zauberhaftem Lächeln und zärtlichen Umarmungen belohnt. „Wir haben gelernt, im Jetzt zu leben“, sagt Shabnam. Die Zeit mit Jaël nennt sie ein Geschenk. „Man muss den Augenblick genießen lernen, einen Moment des innigen Kuschelns, ein liebes Lächeln.“

„Oasen im Alltag“

Die Eltern bauen sich „kleine Oasen im Alltag“, genießen es viel mehr als früher, mit einer Tasse Kaffee ein paar Minuten in der Sonne zu sitzen, den Magnolienbaum im Garten blühen zu sehen, mit guten Freunden zusammen zu sein. Im Fernsehen sehen sie sich grundsätzlich nur Lustiges an. „Das wäre sonst zu viel gewesen“, sagt Wolfgang.

Das Mädchen bleibt auf dem kog­nitiven Stand eines Babys. „Dass sie nie lernte zu krabbeln, dass sie nicht selbstständig sitzen konnte, geschweige denn aufrecht stehen oder laufen, all das war für uns schwer zu verkraften“, gibt Wolfgang zu. „Erst nach mehreren Jahren hatten wir uns damit abgefunden.“ Doch wenn man einen Menschen vor sich habe, „den man sehr liebt, geht man Schritt für Schritt: Die Kraft ist immer da.“

Jaël entwickelt eine Lichtempfindlichkeit, die es schließlich unmöglich macht, mit ihr im Hellen nach draußen zu gehen. Das Tageslicht sehen die Eltern nur noch abwechselnd, weil einer von beiden immer bei der Tochter in der abgedunkelten Wohnung bleibt. Sie leiden unter chronischem Schlafmangel, denn Jaël kommt mit sehr wenig Schlaf aus.

Aber auch damit arrangieren sie sich. „Unser Leben mit Jaël hat uns gelehrt, dass das Leben ein Fest ist“, schreiben sie. „Unsere Zeit mit ihr war gleichzeitig so lehrreich, weil sie uns Erkenntnisse über das Leben geschenkt hat, die nur durch das Bewusstsein des Todes möglich sind.“

In ihrem 14. Lebensjahr wird Jaël zunehmend schwächer, schläft auf einmal viel, verweigert schließlich die Nahrung. Begleitet wird die Familie in dieser letzten Phase vom Kinderpalliativteam „Sternenboot“ der Uniklinik Düsseldorf, das zu ihnen nach Hause kommt. Jaël stirbt schließlich im Dezember 2014 im Beisein ihrer Eltern in deren Bett.

Barbara Driessen

Hintergrund:

Trisomie 18 ist ein Gendefekt, bei dem das Chromosom 18 nicht wie üblich zweifach, sondern dreifach vorhanden ist. Entdeckt wurde diese Chromosomenstörung 1960 von dem britischen Humangenetiker John Hilton Edwards, nach dem es auch als Edwards-Syndrom bezeichnet wird. 

Zu den Symptomen gehören neben einer geistigen Behinderung oft Herzfehler, eine Kombination weiterer körperlicher Fehlbildungen und eine Wachstumsverzögerung. Viele Kinder sterben bereits im Mutterleib. Etwa einer von 6000 Säuglingen wird in Deutschland mit Trisomie 18 geboren. Eine Vorbeugung gibt es nicht.

epd

12.01.2018 - Deutschland , Gesundheit