Häftlinge im KZ

Glaube bis zum letzten Atemzug

Konzentrationslager – allein die Bezeichnung lässt schaudern. Für viele Gegner des NS-Regimes, die in einem der zahlreichen KZs einsaßen, waren sie Orte des Grauens. Willkür und Gewalt waren an der Tagesordnung. Hoffnung gab manchem Häftling die Religion. Ja, selbst in Lagern und Haftstätten des NS-Regimes wurde gebetet, gab es ein geistliches Leben. Die Forschung dazu steht noch am Anfang.

Die ersten polnischen Soldaten, die nach dem Kriegsbeginn am 1. September 1939 ins Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stammlager Stalag X B nach Sandbostel kamen, begannen sogleich mit dem Aufbau einer eigenen Gemeinde. Sie gestalteten in einer Baracke sogar ihren eigenen Kirchenraum zum täglichen Gebet und Gottesdienst.

„Allabendlich um etwa 21 Uhr singen sie in ihren Baracken ein Abendlied, morgens nach dem Aufstehen ein Morgenlied. In Andachten stehen sie in ihren Betten.“ So beschreibt ein deutscher Wachmann den Glauben der polnischen Katholiken im Lager.

Nach den Bestimmungen der Genfer Konvention und der Haager Landkriegsordnung musste den Kriegsgefangenen eine offene reli­giöse Betätigung ermöglicht werden. Das erkannten auch die Nazis an. Liturgische Geräte, Bibeln und Gebetsbücher, Messwein und geweihte Hostien brachten etwa das Rote Kreuz oder der CVJM zu den Soldaten. 

Die ausländischen Hilfsorganisationen begutachteten auch die Lager. Das war den Nazis ganz recht, konnten sie doch auf diesem Weg der ganzen Welt demonstrieren, wie gut das „Dritte Reich“ mit seinen Gefangenen umging. Dass dies nicht unbedingt für sowjetische Soldaten galt und auch das Rote Kreuz wenig Interesse zeigte, die mit Rot­armisten überfüllten Lagerbereiche zu besuchen, gehört zu den kaum erforschten Aspekten der NS-Geschichte, sagt der Leiter der Gedenkstätte Sandbostel, Andreas Ehresmann.

Muslime praktizierten ihren Glauben

Soldaten der Roten Armee wurden in deutschen Kriegsgefangenenlagern in der Regel schlechter behandelt als Angehörige anderer Streitkräfte. Dennoch wurde offensichtlich bestimmten Rotarmisten eine gewisse Freiheit gewährt, weiß Ehresmann: „Muslimen war es durchaus erlaubt, ihre Gebete auszuführen. Sie konnten auch einen Imam bestimmen.“ In den asiatischen Sowjetrepubliken, insbesondere bei Usbeken, Turkmenen und Tadschiken, gab es viele Muslime, die ihren Glauben praktizierten. 

In dem Bereich des Lagers, der für französische Kriegsgefangene vorgesehen war – unter ihnen zahlreiche Muslime aus Nordafrika –, sei der Ruf des Muezzin zu hören gewesen. Indizien sprechen laut Ehresmann sogar dafür, „dass in der Lagerküche auf muslimische Gläubige Rücksicht genommen wurde. Das heißt, dass zum Beispiel kein Schweinefleisch verwendet wurde.“

Kaum Thema gewesen

Ob den Muslimen demonstrativ mehr Freiräume zugestanden wurden, um mit ihnen im Krieg vor allem in Nordafrika neue Allianzen schmieden zu können, ist bislang nicht erforscht. Auch sonst ist die Religiosität in Lagern des NS-Re­gimes kaum Thema der Geschichtsforschung gewesen.

Eines scheint aber schon jetzt klar zu sein: Die Nazis achteten zumindest in den Kriegsgefangenenlagern das Recht auf freie Religionsausübung – und das sogar dann, wenn es sich um jüdische Offiziere und Soldaten handelte.

„Trotz der antisemitischen Welt­anschauung des Nationalsozialismus waren Juden in den Kriegsgefangenenlagern, solange sie nicht in der Roten Armee kämpften, relativ sicher. Die meisten von ihnen hat der Kriegsgefangenenstatus geschützt. Sie haben auch den Nationalsozialismus überlebt“, weiß Ehresmann.

Lagerregeln behinderten liturgisches Leben

Anders sah die Situation in den Konzentrationslagern aus. Im KZ Ravensbrück etwa waren rund 140 000 Häftlinge interniert. Fast 28 000 fanden hier den Tod. Zwar galt formell in KZs kein explizites Verbot religiöser Praxis. Die Lagerregeln behinderten das liturgische Leben der Gläubigen aber sehr.

„So durften sich nicht mehr als drei Personen gemeinsam auf der Lagerstraße aufhalten, was ein gemeinschaftliches Gebet erschwert hat“, berichtet Sabine Arend, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. „Bei der Aufnahme ins Lager wurde aller Privatbesitz abgenommen, einschließlich Bibeln, Andachtsbilder, Gebetsriemen, kleiner Kreuze und so weiter.“ 

Maria in der Zahnpastatube

Davon ließen sich die Gefangenen in ihrem gelebten Glauben aber nicht abhalten. So schaffte es Ka­tharina Katzenmaier, die später als Schwester Theolinde in ein Kloster der Benediktinerinnen von der heiligen Lioba eintrat, trotz strenger Leibesvisitation, eine Marienmedaille in ihrer Zahnpastatube ins Lager zu schmuggeln. Aus Brotresten, Beeren und Seilknoten wurden Rosenkränze gebastelt. Aus den Griffen von Zahnbürsten schnitzten die Häftlinge Miniatur-Bilder der Muttergottes. 

Die vollkommene Ruhe der täglichen Abzählappelle nutzten viele zur persönlichen Andacht und zum Gebet. Die wegen ihrer Freundschaft zu Juden inhaftierte evangelische Breslauer Stadtvikarin Katharina Staritz vermochte es sogar, in der Freistunde beim Auf- und Abgehen auf der Lagerstraße murmelnd kleine Gottesdienste abzuhalten. 

Christus im Lager

Sogar geweihte Hostien gelangten ins KZ. Die Polin Maria Dydynska schreibt in ihren Erinnerungen: „Am 9. November eilten Gruppen von Frauen in der Dunkelheit noch vor dem Appell in die Richtung des Blocks, in dem eine Häftlingsnonne die Kommunion erteilte. Noch zwei Mal brachten die tapferen Kolleginnen Christus, unseren Herrn, ins Lager mit.“

In den Außenlagern arbeiteten immer wieder auch gefangene Priester, die Brot oder Oblaten konsekrieren konnten. Durch die Zwangsarbeit, zu denen auch die Gefangenen aus dem KZ Ravensbrück auszogen, gab es Kontakte dorthin. Mangels Priester im Lager nahmen etwa die Polinnen, die größte Gruppe in Ravensbrück, die Ausübung der Sa­kramente zur Not auch selbst in die Hand, etwa bei Taufen.

„Nach dem Appell brachte mich die Blockälteste in den Geburtsraum“, erinnerte sich Leokadia Kopczrynska. „Dort gebar ich mein Kind. Ich hatte eine sehr schnelle Geburt. Es gab nur diese eine Schwester und die sprach sogar Polnisch. Sie sagte: Gib dem Kind einen Namen! Ich sagte: Barbara! Sie hielt das Kind unter einen Wasserhahn, taufte es mit Wasser und gab ihm den Namen.“

Glaube war Akt des Widerstands

Die Zeugen Jehovas im Lager vollzogen heimlich Ganzkörpertaufen in einem Wasserfass. Der Glaube war immer auch ein Akt des Widerstands. Historiker Falk Bersch erinnert an die Disziplin der Zeugen Jehovas. Dieser christlichen Glaubensgemeinschaft war nicht nur jeder Wehrdienst, sondern auch jede Arbeit für den Krieg verboten. 

Am Morgen des 19. Dezember 1939 verweigerten 50 Zeugen Jehovas in der Nähstube in Ravensbrück die Arbeit, nachdem man sie aufgefordert hatte, für Soldaten an der Front als Liebesgaben zu Weihnachten Beutel zu nähen. Wahrscheinlich waren damit Patronen- oder Pistolentäschchen gemeint. 

„Lagerkommandant Max Koegel ließ sie hinter dem Zellenbau Aufstellung nehmen und wollte ein Exempel statuieren“, sagt Bersch. „Er ließ die übrigen Zeugen Jehovas aus dem Lager antreten und erklärte, wer sich weigere, diese Beutel zu nähen, solle nach links treten. Bis auf drei traten alle Zeuginnen wie ein Mann nach links. 400 Frauen verweigerten an diesem Morgen die Arbeit.“

Gebete im Leichenkeller

Passiver Widerstand dieser Art galt vielfach bis in den Tod. Im Leichenkeller gab es kurze Verabschiedungen und ein stilles Gebet. Heimlich steckten die Mitinsassen den toten Glaubensgeschwistern Wiesenblumen in die gefalteten Hände.  

Glaube bis in den Tod – das galt auch in Auschwitz-Birkenau, dem bekanntesten der NS-Todeslager im Osten. Jüdisches Leben gab es hier oft nur für Tage, manchmal nur noch Stunden. Insassen versteckten ihre Notizen und Tagebücher vor ihrer Ermordung in Ton- oder Glasgefäßen und vergruben diese auf dem Lagergelände.

Zeitzeuge Leyb Langfus berichtete: „Rabbi Fridman steht nackt wie der Rest der Deportierten in dem Auskleideraum und spricht zu dem SS-Oberscharführer. Er sagt ihm, dass die Nazis für ihre Taten gerichtet werden und dass das jüdische Volk nicht von den Nazis vernichtet wird. Daraufhin bedeckt er sein Haupt und ruft das Sch’ma Israel zusammen mit den Anwesenden mit großer Begeisterung.“

Trost vor dem Tod

Kurz vor ihrem Tod beten alle gemeinsam das jüdische Hauptgebet Sch’ma Israel. Ein Trost? Die letzte Behauptung der religiösen Identität, die die Schergen auch angesichts der beschämenden Kleiderlosigkeit nicht nehmen konnten? Man kann nur erahnen, welch große Wichtigkeit diese Glaubensäußerungen für die Menschen in den letzten Augenblicken ihres Leben hatten.

Den Tod vor Augen, blieb es bei den Juden nicht bei trotzigen Glaubensbekenntnissen: Am 7. Oktober 1944 wagten Juden im Lager den Aufstand. Sie setzten die Gaskammern in Brand und sprengten Krematorien. Letztlich war der Aufstand aber ohne Erfolg. Das Märtyrertum ist kein jüdisches Ideal. Angesichts des sicheren Todes erwies es sich aber als letzte Option.

Die Religionsausübung und -behauptung in deutschen Gefangenen- und Konzentrationslagern des Zweiten Weltkriegs hatte verschiedenste Facetten. Die Forschung dazu steht erst am Anfang und ist noch weit davon entfernt, ein Gesamtbild vorlegen zu können. Womöglich wird noch manche Überraschung in den alten Akten lauern.

Thomas Klatt

17.07.2019 - Glaubensleben , NS-Zeit