Christlich-heidnischer Horror-Spaß

Irlands Metropole des Grusels

Halloween hat Londonderry berühmt gemacht. So nennen die Briten die Stadt am Ufer des Foyle. „Für mich“, sagt der Bürgermeister im Rathaus, „ist das Derry.“ Gleiches gilt für die Katholiken, die die Mehrheit der Stadtbewohner stellen und auf Protestanten früher ebenso schlecht zu sprechen waren wie auf englische Royalisten. Sie müssen aber damit leben, dass die Stadt offiziell Derry/Londonderry heißt – mit einem Schrägstrich, dem „stroke“. Spötter sprechen daher gern von der „Stroke City“. 

Mit Millionengeldern vor allem aus den Töpfen der Europäischen Union hat sich die Stadt herausgeputzt. Vergessen sind die Zeiten, als sich Protestanten und Katholiken in Nordirland die Köpfe einschlugen und die „Troubles“ mehr als 3500 Tote und fast 50 000 Verletzte forderten. Inzwischen sind die mächtigen Stadtmauern, die seit dem 17. Jahrhundert die Altstadt umschließen, zur Touristenattraktion geworden. „Walled City“ ist deshalb ein anderer Name für Derry. 

Daneben ist man stolz auf das älteste Kaufhaus der Welt und eine der schönsten Kirchen Nordirlands. Die meisten Schlagzeilen aber macht die Stadt mit ihrem Halloweenfest, das dieses Jahr nach einjähriger Corona-Pause wieder ein Riesenfeuerwerk über dem Foyle krönt. „Machen Sie sich darauf gefasst, das am Halloween-Abend viele Leute unterwegs sind“, warnt die Stadtverwaltung.

Vollmaskierung schützt

Die Besucher reisen inzwischen aus aller Welt in die Gruselhauptstadt. Auf einen großen Umzug hat man diesmal aus Angst vor Corona zwar verzichtet. Dafür wird ein rund fünf Kilometer langer Straßenabschnitt von Geistern und anderen Maskengestalten bespielt. Eine Vollmaskierung, empfehlen die Festplaner allen Besuchern, schütze am besten gegen die Pandemie. 

Um das Fest zu entzerren, hat man schon am 20. Oktober mit den Halloween-Feiern begonnen. An allen Ecken und Enden locken Kostümfeste. „Happy Halloween“ grüßt die Schrift im Fenster eines der vielen Pubs. In der Kneipe drinnen baumeln Schreckgestalten von der Decke, hängen Tod und Teufel hinterm Tresen. Leicht geschürzt sind die Bedienungen, als Elvis-Verschnitt mit Pomaden-Tolle zeigt sich zum Fest der Wirt – zur Freude japanischer Touristen, die den Mummenschanz amüsiert belächeln. 

Besonders begehrt sind Gruselgänge über den Friedhof, apokalyptisch anmutende Schlachten kostümierter Zombies und Märchennachmittage, in denen die Welt der Kelten zu neuem Leben erwacht. Denn denen fühlen sie sich im Norden Irlands besonders verbunden. Plastik-Skelette und Totenköpfe, künstliche Spinnweben und Gruselzubehör in allen Preisklassen füllen dieser Tage die Auslagen der Geschäfte.

Abends fließt der Alkohol

Am organisierten Grusel lässt sich gut verdienen. Auch Derrys Wirte machen im Oktober ihr bestes Geschäft. Fast überall in der Stadt fließt abends der Alkohol – beinahe so, als gebe es den Rest des Jahres nichts mehr zu trinken. Das weiß auch die Stadtverwaltung, die für Familien mit Kindern deshalb immer mehr Programme in alkoholfreien Zonen organisiert. 

Grob betrachtet ist Halloween eine altertümliche Ausgabe des deutschen Karnevals oder Faschings, der im Norden Irlands seine eigene Geschichte hat. Halloween soll an Samhain erinnern, an das Ende des keltischen Sommerhalbjahres, das dem heidnischen Glauben zufolge mit der Rückkehr der Toten auf die Erde einherging. Später verknüpfte sich die Samhain-Tradition mit den christlichen Festen Allerheiligen und Allerseelen. Sprachlich stammt Halloween von „All Hallows’ Eve“ (etwa: Vorabend von Allerheiligen).

Gemeinschaftsstiftendes Fest

Damals wie heute ist das Fest gemeinschaftsstiftend, was in der noch vor Jahrzehnten von bürgerkriegsähnlichen Zuständen gezeichneten Stadt als Segen wahrgenommen wird. „Halloween“, verkündet der Bürgermeister sichtlich stolz, „verbindet die Konfessionen, weil es nicht als katholische oder protestantische Feier wahrgenommen wird, sondern als eine große Party.“ Eine Party, die keiner der einst zerstrittenen Konfessionen eigen ist. 

Mit 78 Prozent stimmten die Bürger Derrys beim Brexit-Referendum gegen den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Sie fürchteten die neue feste Grenze zur Europäischen Union vor ihrer Haustür. Diese Angst hat ihnen die EU mit einem Zusatzprotokoll im Brexit-Abkommen genommen, das keine Zollkontrollen zwischen der britischen Provinz Nordirland und dem EU-Mitglied Irland vorsieht. Stattdessen soll zwischen Großbritannien und Nordirland kontrolliert werden. 

Inzwischen aber rütteln die Briten an diesem Abkommen, sodass die Befürchtungen größer werden, die Kämpfe zwischen Katholiken und Protestanten – 1998 im sogenannten Karfreitagsabkommen vertraglich eingestellt – könnten wieder aufflammen. Da ist es wahrlich kein Wunder, wenn man in diesem Jahr zu Halloween in Derry dem einen oder anderen Brexit-Gespenst begegnet.

Günter Schenk