Exklusiv-Interview mit Politologen Andreas Püttmann

Laschet „für zu leicht befunden“

Nach der Bundestagswahl haben im politischen Berlin die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP begonnen. Erstmals könnte auf Bundesebene eine sogenannte Ampelkoalition die Regierung bilden. Im Exklusiv-Interview spricht der Bonner Politologe Andreas Püttmann über das Wahlergebnis, die „Ampel“ und christliche Werte in der Politik.

Herr Püttmann, die beiden großen Volksparteien kommen bei der Bundestagswahl zusammen auf nicht mal mehr 50 Prozent. Ist das Ergebnis ein Zeichen für Politikverdrossenheit?

Die radikalen Randparteien haben Stimmen verloren, die Wahlbeteiligung lag mit 77 Prozent auf dem Niveau von 1990, 2005, 2017 – insofern keine Verdrossenheit. Allerdings haben die zwei zunächst stärksten Parteien durch Auswahl ihrer Kanzlerkandidaten eine Situa­tion geschaffen, in der viele Wähler unzufrieden mit dem Personal­angebot waren. Davon hat die SPD profitiert, weil ihr Kandidat, der „Scholzomat“, mindestens politisch sehr erfahren und in seiner sachlich-nüchternen Art der beliebten Kanzlerin am ähnlichsten schien. Nach 16 Jahren Unions-Dominanz kam eine Wechselstimmung hinzu.

Hat die CDU mit Armin Laschet auf das falsche Pferd gesetzt?

Eindeutig ja. Es war eine historisch beispiellose Torheit, dass der CDU-Bundesvorstand, von den Altvorderen Wolfgang Schäuble und Volker Bouffier falsch beraten, einen Kandidaten durchdrückte, den nur 17 Prozent der Unions-Anhänger wollten. Markus Söder bevorzugten 72 Prozent. Er war auch in der Bevölkerung, nicht zuletzt im Osten, weit beliebter und hätte die Union sicher zum Wahlsieg geführt. Dann bekämen wir nun eine schwarz-grüne Zweierkoalition. 

Armin Laschets Selbstüberschätzung und Fehler im Wahlkampf trieben Mitte-Wähler in Scharen zu Grünen und SPD, während der zu einer Art Vizekandidat hervorgehobene Friedrich Merz in der Mitte abschreckte und rechts kaum Stimmen von FDP und AfD abwerben konnte. Hinzu kamen die Laschheit gegenüber dem Rechtsaußen Hans-Georg Maaßen, Laschets Wankelmut in der Pandemiepolitik, sein Lachen während einer Ansprache des Staatsoberhaupts im Katastrophengebiet. 

Kurzum: Er wurde gewogen und für zu leicht befunden. Und die CDU vernachlässigte ihren christlich-sozialen Flügel bis zur Unkenntlichkeit. Eine zweite, größere FDP braucht kein Mensch, eine AfD light auch nicht.  

Deutschland steuert damit nun auf eine Ampelkoalition hin. Ist eine linksliberale Regierung in Berlin gut oder schlecht für die Kirche?

Eher schwierig. Es gibt zwar christliche Schnittmengen mit der Sozialdemokratie und den Grünen in der Sozial-, Flüchtlings- und Klimaschutzpolitik, aber auch Unvereinbarkeiten beim Lebensschutz, den Familienformen sowie kirchlichen Eigenbelangen. Starke Kräfte unter Linken und Liberalen fordern zum Beispiel eine Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen, eine Schleifung des kirchlichen Arbeitsrechts, ein Ende der Karfreitagsruhe. Die Unionsparteien sind immer noch am kirchenfreundlichsten und haben die meisten engagierten Christen in ihren Reihen.

Wie stark darf oder sollte die Politik regelnd in das religiöse Leben eingreifen?

Gar nicht, soweit keine mit der Religionsfreiheit konkurrierenden Grundrechte zu schützen sind. Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen wie auch welt­anschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Reli­gionsausübung wird laut Grundgesetz gewährleistet. 

Regelungsbedürftig sind Schnittmengen staatlichen und religiösen Lebens wie der Religionsunterricht in staatlichen Schulen, die Seelsorge in Militär, Polizei und Justizvollzugsanstalten, die staatliche Anerkennung von Hochschulen und Theologischen Fakultäten, die Kooperation beim Kirchensteuereinzug, bei der Entwicklungs- und der Katastrophenhilfe. 

Daneben gibt es Sonderprobleme wie das so genannte „Kirchenasyl“. Bisher können sich die Kirchen nicht über schlechte Behandlung beschweren. Und der Staat hat Interesse am zivilgesellschaftlichen Engagement der Religionsgemeinschaften. Er lebt auch von den sozialen und moralischen Früchten ihrer geistlichen Existenz.

Vor Jahren stand die Frage an, ob die geplante und letztlich gescheiterte EU-Verfassung einen Gottesbezug haben sollte. Sind Sie dafür oder dagegen?

Dafür. Aber diese Schlacht ist längst geschlagen. Nach langer kontroverser Debatte wurde in der Präambel des Verfassungsentwurfs nur das „kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas“ genannt. Das Wort „christlich“ wurde vermieden. Und nach dem Scheitern der Verfassung wurde dieser Wortlaut 2009 in die Präambel des Vertrags von Lissabon aufgenommen. 

Unser Kontinent hat sich seitdem weiter entchristlicht. Einen ideologischen, identitären „Christianismus“ zur bloßen Abgrenzung vom Islam sollte man nicht verwechseln mit einer echten Rückbesinnung auf das „christliche Abendland“.

Betrachtet man den zurückliegenden Wahlkampf, könnte man meinen, Gendersprache, diverse Geschlechter oder Elektroautos seien wichtiger als Heimat, Volkstum und Identität. Was meinen Sie?

Ich halte nichts davon, kollektiv und traditionell verstandene „konservative“ Werte gegen moderne liberale Werte auszuspielen. Entscheidender Maßstab für Christen ist immer das Wohlergehen der menschlichen Person in ihrer Würde, Freiheit und Verantwortung in der Gemeinschaft. 

Heimat ist ein menschliches Grundbedürfnis in allen Kulturen, volkstümliche Bräuche gehören dazu. Völkisches Denken sollte Christen aber fremd sein, ihr Horizont ist eher universal. Ihre „Brüder und Schwestern“ sind nicht die Volksgenossen, sondern alle Kinder Gottes, zuvörderst – aber nicht nur! – die Geschwister im Glauben. 

Wenn E-Autos einen Beitrag zur Bewahrung der Schöpfung gegen die Erderwärmung leisten: Was sollte man dagegen haben? Mehr Sensibilität gegenüber vom „Mainstream“ abweichenden sexuellen Identitäten gebietet die Würde der Person. Komisch, dass die, die sonst gern gegen den „Mainstream“ wettern, ihn in Geschlechterfragen als allein maßgeblich verteidigen. Ich rate da zu weniger Ideologie auf beiden Seiten, zu mehr Pragmatismus und vor allem zur Empathie. 

Gottes Menschenfreundlichkeit spiegelt sich im rheinisch-katholischen „Jeder Jeck ist anders“. Sprache muss man dafür allerdings nicht verhunzen. Ich „gendere“ nicht und bleibe beim generischen Maskulinum, wünsche mir aber mehr Frauen in Führungspositionen, weil leider zu viele Männer das Modell „röhrender Hirsch“ darstellen. „Toxische Männlichkeit“ gibt es wirklich. Sie schadet allenthalben.

Warum gibt es so viele religiöse Konflikte auf der Welt?

Weil Religion aller historischen Erfahrung nach janusköpfig ist: Sie motiviert zu viel Gutem – Selbstdis­tanz, Demut, Nächstenliebe, Verlässlichkeit, Leistungsbereitschaft, Versöhnlichkeit, Trost und Hoffnung. All das hat auch politische Wirkung. Andererseits gibt es Risiken durch „Pathologien der Reli­gion“ wie auch Pathologien einer sich selbst vergötzenden Vernunft. Siehe die Französische Revolution oder den Kommunismus. Beide Pathologien erzeugen Menschenopfer. 

Religiöse Konflikte verlaufen übrigens nicht nur entlang der Grenzen der Weltreligionen, sondern quer durch ihre jeweiligen Konfessionen und Strömungen. Eindämmen kann man sie durch Bildung, Dialog und sozialen Ausgleich, denn oft verbergen sich hinter vermeintlichen Glaubenskriegen ökonomische und politische Interessenkonflikte. Die letzten Päpste haben durch Spitzenbegegnungen und Reisen wichtige Impulse für den interreligiösen Dialog und die gemeinsame Verantwortung der Religionen für den Weltfrieden gegeben.

Für welche zeitlosen Werte stehen Sie selbst ein?

Ich bemühe mich in Debatten um einen Beitrag zu den Klassikern: Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden. Wobei ich sicher auch für Streitbarkeit stehe. Ich sehe den Frieden nicht an der Spitze der Wertehierarchie und bin kein Pazifist, weder politisch noch privat. Man muss die Geister unterscheiden und in Kauf nehmen, dass sie sich dann an einem scheiden. Das hat mich manche Freundschaft gekostet, gerade in den vergangenen Jahren der Radikalisierung von Teilen des konservativen Lagers, dem ich mich ursprünglich und ideell immer noch zugehörig fühle. 

Die Verrohung und geistige Verplumpung vieler Konservativer, und zwar international – in USA, Brasilien und Polen – wie national – AfD und Co. – haben mich erschreckt und mehr in die Mitte rücken lassen. Manche sich katholisch dünkende Internetportale sind offen zum Rechtspopulismus übergelaufen und hetzen gegen die liberale Demokratie. Nichts aus den katholischen Beiträgen zum Faschismus gelernt! Und längst nicht mehr „papsttreu“. Gegen solche „getünchten Gräber“ (Mt 23,27) habe ich in den vergangenen Jahren viel gestritten.

Mindestens so wichtig wie Werte erscheinen mir Tugenden, vor allem die vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigung. Früher nahm ich in der Gesellschaft vor allem einen Mangel an Tapferkeit wahr: zu viele Opportunisten und Konformisten! Inzwischen scheint es mir mehr an Klugheit und Maß zu fehlen. Die Echoräume des Internets haben ein übertriebenes Selbstbewusstsein genährt, das in keinem Verhältnis zur eigenen Bildung, Urteilskraft und Integrität steht. Spinner und Maulhelden gab es immer, aber jetzt finden sie Resonanz über den Stammtisch hinaus. 

„Unter den Blinden ist der Einäugige König.“ So emanzipiert man sich nicht nur von den verachteten politischen Eliten, sondern sogar, wie die Pandemie zeigte, von Wissenschaft und Wirklichkeit, was natürlich nicht gut gehen kann. Der Trumpismus ist kein so fernes Phänomen, wie manche glauben. Diese Entwicklung hat das Potenzial, Kultur zu zerstören und uns moralisch nach unten zu ziehen. Zumal die disziplinierende Kraft des christlichen Ethos ja heute weitgehend ausfällt. Die Decke der Zivilisation fühlt sich dünn an.

Andreas Raffeiner

Zur Person: 

Andreas Püttmann lebt in Bonn und ist 57 Jahre alt. Er ist Politologe und freier Publizist. Als seine Themenschwerpunkte bezeichnet er die Sozialethik, Religionssoziologie, Demoskopie und den Rechtspopulismus. Zuvor war er in der Begabtenförderung der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung tätig. 

Als Christ, sagt Püttmann, sei er „mal liberal, mal sozial, mal konservativ“. Seine Bücher tragen Titel wie „Ziviler Ungehorsam und christliche Bürgerloyalität“ (1994), „Gesellschaft ohne Gott“ (2010) und „Wie katholisch ist Deutschland – und was hat es davon?“ (2017). ar/red

26.10.2021 - Christentum , Deutschland , Politik