Der Schatz von Notre-Dame

Liegt Jesu Dornenkrone in Paris?

Als Notre-­Dame in Flammen stand, hielt die Welt den Atem an. Durch sein beherztes Eingreifen rettete der Kaplan der Pariser Feuerwehr, Jean-Marc Fournier, Jesu Dornenkrone aus der brennenden Kathedrale. An der Frage der Echtheit jener Reliquie, die seit dem 13. Jahrhundert in Frankreichs Hauptstadt verehrt wird, scheiden sich die Geister.

Klar ist: Durch seinen mutigen Einsatz rettete Fournier eines der prominentesten Zeugnisse der Passion. „Die Dornenkrone spielt in unserem christlichen Glauben eine zentrale Rolle. Sie ist so ein starkes Symbol. Wir mussten mit aller Macht verhindern, dass sie ein Opfer der Flammen wird“, sagte der Mittfünfziger, den das Internet als „Held von Notre-Dame“ feiert, einem französischen Fernsehsender.

Für Paris ist die Dornenkrone das, was für Trier der Heilige Rock ist und für Turin das Grabtuch. Christus-Reliquien wie diese faszinieren die Menschen seit Jahrhunderten – Gegenstände, die Jesus von Nazareth vor 2000 Jahren durch seine Berührung geheiligt hat: Hier die Spottkrone römischer Legionäre, da das Gewand, das der Gottessohn vor seinem Tod trug, oder das Leinentuch, in das sein gemarterter Körper nach der Kreuzigung jüdischem Brauch gemäß gehüllt wurde.

Zum Spottkönig gekrönt

Mit der Dornenkrone krönten dem Evangelium zufolge römische Soldaten Jesus zu ihrem Spottkönig. „Die Soldaten führten ihn ab, in den Hof hinein, der Prätorium heißt, und riefen die ganze Kohorte zusammen. Dann legten sie ihm einen Purpurmantel um und flochten einen Dornenkranz; den setzten sie ihm auf und grüßten ihn: Sei gegrüßt, König der Juden!“, heißt es bei Markus (Mk 15,16–18).

Im Hochmittelalter wurde eine „Dornenkrone“ neben anderen vermeintlichen oder tatsächlichen Passionsreliquien – darunter ein Stück des „Wahren Kreuzes“, die Lanze des Longinus und eine Glasampulle mit Christi Blut – in einer Kapelle des Kaiserpalasts von Konstantinopel aufbewahrt und verehrt. 1204 eroberten Kreuzfahrer im Bündnis mit Venedig Konstantinopel und plünderten die Kaiserstadt drei Tage lang. Sie raubten Kostbarkeiten und Reliquien und zerstörten wertvolle Kulturgüter.

Die Eroberung, die der norditalie­nischen Handelsmetropole Venedig einen lästigen Konkurrenten vom Hals schaffte, war kein Ruhmesblatt in der Geschichte des Abendlands. Unter maßgeblichem Einfluss Venedigs gründeten Kreuzfahrer auf byzantinischem Boden das Lateinische Kaiserreich. Es sah sich in der Nachfolge der Byzantiner, währte aber nur ein gutes halbes Jahrhundert. Bereits 1261 ging es wieder unter. Konstantinopel konnte sich von der Niederlage nie ganz erholen und fiel 1453 an die Türken.

Um an Geld zu kommen, begann das notorisch klamme Lateinische Kaiserreich, zahlreiche seiner Reliquien zu verkaufen. Kaiser Balduin II. bot dem König von Frankreich, Ludwig IX., die Dornenkrone und weitere Passionsreliquien an. Der Preis war as­tronomisch, aber der fromme Ludwig, der als „der Heilige“ in die Geschichte einging, wollte sich die Chance nicht entgehen lassen – zumal sich Frankreich wegen seiner Friedenspolitik und der blühenden Wirtschaft eine solche Ausgabe leisten konnte.

1239 wurden die Reliquien in einem wahren Triumphzug nach Paris geleitet. Im königlichen Palast auf der Île de la Cité wurde eigens eine neue Kapelle gebaut, um die kostbaren Passionszeugnisse zu beherbergen. Die Saint-Chapelle war eines der ersten Gottes­häuser im neuen Stil der Gotik. Mit ihren großformatigen Buntglasfenstern und den farbenprächtig bemalten Wänden gilt sie heute als Meisterwerk der hochmittelalterlichen Architektur.

Viele Reliquien vernichtet

Als glücklicher Umstand erwies sich, dass die Passionsreliquien später in die ebenfalls auf der Pariser Seine-Insel Île de la Cité gelegene Bischofskirche Notre-­Dame gebracht wurden: Während der Französischen Revolution plünderten kirchenfeindliche Revolutionäre die Saint-Chapelle und vernichteten viele der noch vorhandenen Reli­quien. 

Bis zu dem verheerenden Brand wurde die Dornenkrone stets an den Freitagen der Fastenzeit in Notre-­Dame verehrt. Der französische Dichter Paul Claudel (1868 bis 1955), der der konservativen sozialkritischen „Renouveau catholique“ (katholische Erneuerung) zu­gerechnet wird, schrieb einst: „Ich für meinen Teil wagte kaum, mich in den Tagen der Fastenzeit unter die zu mengen, die die Dornenkrone küssten.“ 

Einzelne Dornen der Christus-Reliquie verschenkte Ludwig IX. an befreundete Fürsten und kirchliche Würdenträger. Eines der Exem­plare fand seinen Weg nach Deutschland. Der Wittelsbacher Kurfürst Maximilian I. (1573 bis 1651) ließ es in die Krone des Standbilds der Patrona Bavariae einfügen, das seit 1638 auf dem Marienplatz in München steht. Wie genau jener Dorn in die bayerische Landeshauptstadt gelangte, ist nicht bekannt.

Immer wieder gab es Beziehungen der Wittelsbacher nach Frankreich. So entstammte etwa Königin Isabeau (1370 bis 1435) dem bayerischen Adelsgeschlecht. Der Dorn könnte aber auch aus der Reliquiensammlung Friedrichs des Weisen von Sachsen stammen. Sie stand nach der Reformation zum Verkauf. Die Reformatoren lehnten die katholische Reliquienverehrung zwar ab. Reliquien zu Geld zu machen, fanden sie aber wohl in Ordnung.

Doch ist die Pariser Dornenkrone nun tatsächlich jenes Exemplar, das römische Soldaten Christus aufs Haupt drückten, um ihn zu demütigen? Historiker Michael Hesemann liefert in seinem im Jahr 2000 bei Hugendubel erschienenen, nur noch antiquarisch erhältlichen Buch „Die stummen Zeugen von Golgatha“ zumindest Indizien, die auf eine Echtheit hindeuten.

Hesemann geht davon aus, dass die Pariser Dornenkrone identisch ist mit jenem „pileus“, also Helm aus Dornen, von dem spätantike Autoren schrieben, dass er in der Jerusalemer Kirche der Apostel aufbewahrt wurde. 1063 soll der Binsenreif, in den Zweige eines Dornengestrüpps eingeflochten waren, nach Konstantinopel gebracht worden sein. Von dort kam er nach Frankreich.

Aus dem Heiligen Land?

1870 untersuchte der französische Architekt Charles Rohault de Fleury für seine Studie zu Passionsreliquien auch die Pariser Dornenkrone. Die Dornen, schreibt Hesemann, habe er als solche des Syrischen Christusdorns (Ziziphus spina-christi) identifiziert, die Binsen als Juncus balticus, „eine Gattung, die in den warmen Gebieten des östlichen Mittelmeers heimisch ist“. Beides lässt eine Herkunft aus dem Heiligen Land möglich erscheinen. 

Auch mehrere Dornen-Reliquien, die in anderen europäischen Kirchen aufbewahrt werden, identifizierten Wissenschaftler als Christusdorn. Die meisten von ihnen dürften auf Schenkungen Ludwigs IX. zurückgehen, mutmaßt Hesemann. Andere sollen sehr viel früher aus Konstantinopel in den Westen gekommen sein. Die Herkunft der Mehrzahl der in Europa verehrten Dornen-Reliquien ist für Hesemann „zumindest zweifelhaft“.

Auch die Echtheit der Dornenkrone von Paris lässt sich nicht beweisen. Eine moderne Altersbestimmung, etwa über die Kohlenstoffdatierung, liegt nicht vor. Ohnehin betont die Kirche, es gehe nicht darum, ob eine Reliquie im wissenschaftlichen Sinne echt ist. Im Vordergrund steht ihre symbolische Bedeutung für den Glauben. Für Heinrich Mussinghoff, den emeritierten Bischof von Aachen, sind Reliquien „Hilfsmittel“, die den Gläubigen mit Jesus, Maria oder den Aposteln in Verbindung bringen.

Andere Vertreter der Kirche gehen noch weiter: Sie betonen, um Christus nahe zu sein, bedürfe es keiner Reliquien. Bei aller Wertschätzung für die faszinierenden Relikte dürfe nicht vergessen werden, dass Gläubige Christus in jeder Heiligen Messe begegnen können – in Gestalt der heiligen Kommunion.

Ludwig Gschwind/Thorsten Fels

25.04.2019 - Ausland , Historisches , Reliquien