"Tocada al original" („berührt vom Original“), schrieb Manuel de Arellano, der berühmte Kunstmaler des 18. Jahrhunderts, ganz klein unten auf die von ihm angefertigte Kopie. Namhafte Kollegen seiner Epoche taten es ihm gleich, etwa der Barockmaler Miguel Cabrera oder der Perlmuttkünstler Miguel González. Sie wollten darauf hinweisen, dass sie Zugang zum echten, ursprünglichen Marienbild hatten. Zu ihrer Zeit galten Kopien als umso wundersamer und wertvoller, je dichter am Original sie entstanden.
Es ist eines der rätselhaftesten Bilder der katholischen Welt – und zugleich dasjenige, das wohl am meisten nachgemacht und reproduziert worden ist: das Bild der Jungfrau von Guadalupe. In jedem mexikanischen Haus ist ein Bild der Gottesmutter anzutreffen, oftmals durch einen kleinen Altar ergänzt, um die Patronin des Landes zu ehren und ihren Beistand zu erbitten.
Aber nicht nur für Mexiko ist die Jungfrau von Guadalupe zuständig: Sie wurde inzwischen zur Patronin des ganzen amerikanischen Doppelkontinents ernannt. Katholiken in der Iglu-Kirche von Inuvik am nördlichen Polarkreis in Kanada verehren sie genauso wie Gläubige in der Kirche Nuestra Señora de la Merced in Ushuaia auf Feuerland an der Südspitze Südamerikas.
20 Millionen Pilger
In Mexiko ist das Sanktuarium mit ihrem Bild zum größten Marienwallfahrtsort der Welt geworden – öfter besucht als das portugiesische Fátima oder das französische Lourdes. Pro Jahr wallfahren an die 20 Millionen Gläubige hierher. Um den Feiertag der Jungfrau von Guadalupe herum, der vier Tage nach Mariä unbefleckter Empfängnis auf den 12. Dezember fällt, meistert Villa de Guadalupe, der nördliche Vorort von Mexiko Stadt, einen schier unglaublichen Besucheransturm.
Am 9. Dezember 1531 erschien die Jungfrau, wegen ihrer dunklen Hautfarbe auch „Morenita“ genannt, auf dem Hügel Tepeyac in der Nähe der Stadt erstmals dem 56-jährigen Indio Juan Diego Cuauhtlatoatzin. Die schöne Frau, die dem erst wenige Jahre zuvor Getauften zunächst zweimal erschien, gab sich ihm bei dieser und der weiteren Vision als „Maria, die Mutter des einzig wahren Gottes“ zu erkennen. Und sie erteilte Juan Diego den Auftrag, seinem Bischof nahezulegen, dass am Berg ihrer Erscheinung eine Kapelle errichtet wird. Sie wolle den Menschen dort ihre Liebe und Gnade als mitleidvolle, milde Mutter zukommen lassen.
Bischof Juan de Zumárraga, kurz zuvor aus Spanien hergekommen und mit der Missionierung der Indigenen betraut, war gar nicht begeistert. Auf dem Hügel hatte der Tempel einer aztekischen Göttin – der Erdmutter Tonantzin – gestanden, den die Spanier zerstörten. Zumárraga befürchtete ein Wiederaufflackern der alten Religion. Als die Frau Juan Diego noch ein drittes Mal erschienen war, forderte der Bischof Beweise. Am 12. Dezember kehrte Juan Diego daher erneut nach Tepeyac zurück, wo Maria ihn anwies, eine Handvoll seltener Blumen vom Hügel zu pflücken. Trotz des Winters hatte der Indigene keine Mühe, kastellianische Rosen zu ernten, die den Bischof an den spanischen Marienkult erinnern sollten. Er brachte diese, in seinen Mantel gehüllt, zu Zumárraga.
Als Juan Diego seinen Mantel vor dem Bischof öffnete, fielen die intensiv duftenden Blumen zu Boden und hinterließen einen Abdruck auf dem Stoff, der sich in das Antlitz Mariens verwandelte. Der Bischof erkannte darin das Bild der geschnitzten Madonnenfigur im Kloster Guadalupe in der spanischen Provinz Cáceres – allerdings ist die Gottesmutter dort mit Jesuskind dargestellt. Beide Bilder geben eine Mondsichelmadonna wieder. Der Bischof, nun überzeugt, ließ daraufhin die gewünschte Kapelle auf dem Tepeyac errichten. Der Mantel mit dem Abbild Mariens wurde in einer feierlichen Prozession von der bischöflichen Privatkapelle in Mexiko-Stadt zur fertiggestellten Kapelle getragen.