Nur wenige Touristen verirren sich in die Kleinstadt im ländlichen Norden Südafrikas. Für Sprachforscher hingegen ist Upington, das verschlafene Nest am Rand der Kalahari-Wüste eine Schatztruhe: Hier lebt Katrina Esau. Sie beherrscht als letzter Mensch auf Erden die Sprache N|uu.
Der senkrechte Strich symbolisiert einen von mehr als 40 verschiedenen Klicklauten, welche eine der ältesten Sprachen der Welt von Esaus Zweitsprache Afrikaans unterscheidet. „Als Kind habe ich nur N|uu gesprochen und viele Leute gehört, die sich in der Sprache unterhielten“, erinnert sich die 87-jährige „Ouma Katrina“. Jedoch wurden diese immer weniger. Als vor Kurzem ihre Geschwister starben, fasste Esau einen Entschluss: Sie will ihre Muttersprache retten.
„Mit ihren komplexen Auswirkungen auf Identität, Kommunikation, gesellschaftliche Integration, Bildung und Entwicklung sind Sprachen von strategischer Bedeutung für Menschen und den Planeten.“ So lautet die Botschaft der Vereinten Nationen anlässlich des Internationalen Tags der Muttersprache am 21. Februar. Seit 21 Jahren begehen die UN den Gedenktag, um die globale Sprachenvielfalt hochzuhalten.
Die Organisation ist alarmiert: Zusehends seien Sprachen und Dialekte durch die Globalisierung bedroht. „Alle zwei Wochen verschwindet eine Sprache und nimmt ein kulturelles und intellektuelles Erbe mit sich mit“, heißt es. Die UN schätzen, dass mindestens 43 Prozent der 7000 gesprochenen Sprachen weltweit vom Aussterben bedroht sind – oder genauer: davon bedroht sind, ihre Sprecher an eine andere, dominantere Sprache zu verlieren.
Verdrängte Muttersprache
Zu den weltweit am häufigsten gesprochen Sprachen zählen Englisch, das in 101 Ländern als Verkehrssprache gilt, Arabisch (60 Länder) und Französisch (51 Länder). Bereits im Unterricht werden Muttersprachen verdrängt. So schätzen die Vereinten Nationen, dass 40 Prozent aller Schüler dem Unterricht in einer Sprache folgen, die sie weder fehlerfrei sprechen noch vollständig verstehen.
Das weckt Erinnerungen an Südafrikas dunkle Tage: Das Apartheidsregime hatte Afrikaans, die Sprache der niederländischen Siedler, zur Landessprache erklärt und für politische Zwecke missbraucht. 1976 gingen im Township Soweto bei Johannesburg Tausende Schüler auf die Straße, um gegen Afrikaans als Unterrichtssprache zu demonstrieren. Als der Schülerprotest von der Polizei niedergeschlagen wurde, starben mehr als 500 Menschen.
Katrina Esau erinnert sich in einem Interview mit dem britischen Sender BBC: „Wenn wir dabei erwischt wurden, wie wir unsere Sprache sprachen, schlug man uns.“ Esau wurde 1933 geboren. 15 Jahre danach kam die ultrarechte Nationale Partei an die Macht. „Wir gaben N|uu auf und lernten Afrikaans, obwohl wir keine Weißen waren“, sagt Esau. „Das hat unsere Identität beeinflusst.“
Dynamisch und beständig
1994 fanden in Südafrika die ersten demokratischen Wahlen statt. Seither wandelte sich Afrikaans vom politischen Werkzeug zu einer Verkehrssprache auch unter Südafrikas schwarzer und farbiger Bevölkerung. „Afrikaans ist eine dynamische und beständige Sprache, die von einer lebhaften und vielfältigen Sprachgemeinschaft, kulturellen Einrichtungen, Medien und einer Reihe jährlicher Kunstfestivals getragen wird“, erzählt Sprachforscherin Anne-Marie Beukes von der Universität Johannesburg.
Sollten Sprachen in einer globalisierten Welt gerettet werden? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Mark de Vos, Präsident der Südafrikanischen Sprachwissenschaftlichen Vereinigung, vergleicht den Sprachenreichtum mit biologischer Vielfalt: Viele Tiere und Pflanzen seien seit Anbeginn der Zeit ausgestorben. Ebenso seien die meisten Sprachen in den vergangenen 100 000 Jahren verschwunden. „Aber das bedeutet nicht, dass wir nicht den Versuch starten sollten, die Verbleibenden so gut wie möglich zu bewahren“, meint de Vos. Denn sie seien ein „wertvoller Teil der menschlichen Kultur“.