„Die Figuren kann man am besten aus der Luft betrachten“, beschreibt Reindel das Besondere der Bilder. „Nach Jahren der Forschung sind wir der Meinung, dass das nicht der Hauptzweck dieser Bodenzeichnungen ist, sondern dass die Geoglyphen für rituelle Handlungen genutzt wurden – und zwar von den Menschen, die unmittelbar dort gelebt haben.“
Die Geoglyphen finden sich auf den wüstenhaften Hochflächen zwischen den Tälern. „Am meisten fasziniert mich diese intellektuelle Leistung, wie die Menschen diese sterile wüstenhafte Umwelt in ihr soziales Umfeld eingebunden und alles in eine Rituallandschaft umfunktioniert haben“, sagt Reindel.
Die Zeichnungen entstanden in einem Zeitraum von über 1000 Jahren. „Sie wurden von Generation zu Generation immer wieder verändert und weiter ausgebaut“, erklärt Reindel. „Wir unterscheiden zwischen zwei Phasen. Die Bodenzeichnungen der Nasca-Kultur sind recht präzise zwischen 200 vor und 600 nach Christus einzuordnen.“ Die Entstehungszeit mancher Geoglyphen reicht sogar zurück in die davorliegende Paracas-Zeit.
Keine Außerirdischen
Heute werden die archäologischen Fundplätze mit modernster Technik erforscht. Internationale Teams bringen Drohnen zum Einsatz und werten ihre Ergebnisse am Computer aus. Bei deren Interpretation spielen die Theorien des Schweizer Bestsellerautors Erich von Däniken keine Rolle: Anders als von ihm behauptet, sind die Nasca-Linien keine Relikte von Außerirdischen – so viel steht fest.
„Wer sich ein wenig mit der Nasca-Kultur beschäftigt, merkt schnell, dass die Religion hier ganz wichtig ist“, erläutert Markus Reindel. Die Region ist Teil einer der trockensten Wüsten der Welt. „In den Fluss-Oasen richteten sich die Menschen ihr Leben ein. Landwirtschaft war ihre Lebensgrundlage – und die funktionierte nur mit Wasser. Wasser war das zentrale Element, um das sich alles drehte.“
Die Menschen jener Zeit mussten sich ihre extreme Umwelt irgendwie erklären. Hier kommt die Religion ins Spiel: „Die Menschen haben ihre Religion dafür genutzt, um das lebenswichtige Wasser zu erflehen. Darum drehte sich ihr Glauben – das sehen wir in vielen Darstellungen“, erklärt Reindel. „Gottheiten sind eine Art Fruchtbarkeitsbringer: Sie bringen das Wasser. Diese Verbindung zwischen Götterwelt und tatsächlichem Leben war für die Nasca fundamental.“
Schriftliche Zeugnisse hat die Nasca-Kultur nicht hinterlassen. Die Wissenschaftler sind auf die Interpretationen ihrer Funde in der Wüste angewiesen. „Das zentrale Wesen, was immer wieder dargestellt wird und offenbar die oberste Gottheit darstellt, bezeichnen wir Wissenschaftler ganz trocken als das Mythisch-Anthropomorphe-Wesen“, sagt Reindel. „Früher wurde es Katzengott genannt, weil diese Darstellungen Attribute von Raubkatzen mit Schnurrhaaren oder Krallen aufweisen.“
Die polytheistische Religion der Nasca ist wie andere frühe Naturreligionen sehr komplex, bestätigt der Archäologe: „Man betrachtete seine Umwelt als beseelt. Es gibt Berge und Bäume, die eine Seele haben. Das Wasser ist nicht nur ein physisches Element, sondern ihm wohnt eine Seele inne. Die Lebenswelt und der Mensch selbst waren Teil dieser Natur.“
Die Menschen jener Zeit glaubten, die Götter – also alles, was der Natur innewohnt – beeinflussen zu können: mit Opfergaben, Ritualen, Gebeten. „Ein Spezifikum der Nasca-Kultur und ihres Glaubens war, dass man sich Möglichkeiten schuf, in die beseelte Welt einzudringen, zum Beispiel in Form von schamanistischen Praktiken“, erläutert Reindel. „Man versetzt sich in Trance.“
Ein Element des Schamanismus ist der Glaube an eine Seelenwanderung. „Es herrschte die Überzeugung, dass die Seele von einem Priester in die eines Tieres übergehen kann“, schildert Reindel. „Diese Elemente haben wir in der Ikonographie auf den Keramiken erkannt, wo zum Beispiel fliegende Gestalten dargestellt werden und immer wieder die Vermischung zwischen Mensch und Tier vorkommt.“ Teil des Rituals war es offenbar, dass die Menschen sich als Tiere verkleideten.
Ursprung: 600 vor Christus
Die Datierung der Bodenzeichnungen gelang nach Auskunft des Forschers über einen stilistischen Vergleich der Bildmotive mit jenen der vor Ort aufgefundenen farbigen Keramik. „Wir können die Entwicklungsgeschichte der Geoglyphen ganz gut nachvollziehen“, sagt Reindel. „Sie haben ihren Ursprung in der älteren Paracas-Kultur etwa um 600 vor Christus. Dort finden sich Motive, die von Felszeichnungen auf den Boden übertragen wurden.“
Aus diesen eher bildlichen Darstellungen der Paracas-Zeit entwickelten sich später die Nasca-Geoglyphen. Im Gegensatz zu ihren Vorläufern, die an Berghängen zu finden sind, liegen die Bilder der Nasca-Kultur immer auf den Hochflächen. „Sie sind zudem wesentlich größer und haben Ausmaße von hunderten Metern, teilweise sogar von Kilometern.“
Um das Jahr 600 nach Christus ging die Nasca-Kultur unter. „Das Ende hing ganz sicher mit klimatischen Veränderungen zusammen“, sagt Reindel. „Untersuchungen ergaben, dass es damals immer trockener wurde. Es gab eine sehr lange, sehr trockene Periode, die offenbar dazu geführt hat, dass kein Wasser mehr verfügbar war und die Menschen die Region verließen.“ Es war, meint Reindel, im wörtlichen Sinne der Untergang einer Kultur – wenn auch gerade ohne Wasser.
Rocco Thiede
Information
Die Sonderschau „Nasca – Im Zeichen der Götter“ ist bis 16. September in der Bundeskunsthalle zu sehen. Im Internet: www.bundeskunsthalle.de/nasca