Kurz vor Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine warnte das katholische Osteuropa-Hilfswerk Renovabis in unserer Zeitung vor der Flüchtlingswelle, die Europa gerade erlebt. Nun erläutert Hauptgeschäftsführer Thomas Schwartz im Exklusiv-Interview, wie den leidgeprüften Menschen in und aus der Ukraine geholfen wird. Er rechnet nicht mit einem schnellen Frieden.
Herr Professor Schwartz, es gibt Vorwürfe an Russland, der Krieg sei ein gezielter Genozid. Wie sehen Sie das?
Mit dem Begriff des Genozids wäre ich sehr vorsichtig, weil es damit zu Analogien zur Vernichtung der Juden oder zu manchen wirklich schrecklichen Geschehnissen in der Vergangenheit kommt. Das ist sehr schwierig zu begründen und zu beweisen. Aber ich würde dem zustimmen, dass in der Ukraine fürchterliche Kriegsverbrechen geschehen, die man letztlich nicht nur den Soldaten zuweisen kann, sondern die geradezu eine Strategie sichtbar machen.
Hilfstransporte in das Land sind mit einem hohen Risiko verbunden. Wie können Sie aktuell in der Ukraine helfen?
Wir haben in den letzten Jahrzehnten als Renovabis eine unglaubliche Menge an Partnernetzwerken aufgebaut, die uns jetzt sehr nutzen. Wir können einfach per Telefon und E-Mails durch das gewachsene Vertrauen sehr schnell Kontakt herstellen.
Die Erfahrung zeigt, dass Hilfstransporte häufig an dem „Flaschenhals-Syndrom“ leiden: Man bringt alles an die Grenze, aber dort kommt es dann zu Staus. Deswegen müssen wir im Moment vor allem unseren Partnern in der Ukraine helfen. Denn dort kann man noch alles einkaufen, es gibt dort noch Hilfsgüter. Der Großteil des Landes ist ja kein Kampfgebiet, so dass man das den dortigen Partnern durchaus überlassen sollte. So versuchen wir momentan, den Partnern hauptsächlich mit Geld zu helfen. Sie wissen besser als jeder in Deutschland, was sie brauchen.
Und was brauchen sie?
Im Moment sind das natürlich ganz viele Medikamente, und zwar nicht nur für Kriegsverwundete. Es geht um Medikamente etwa für chronisch erkrankte Menschen, die jetzt durch gestörte Distributionswege bis nach Kiew – in den vergangenen Wochen besonders – nicht geliefert werden konnten. Auch dass man Verbandsmaterial und Dinge der Hygiene schickt, ist durchaus sinnvoll. Da sind unsere Partner in Deutschland – namentlich die Caritas, aber auch die Malteser – sicherlich diejenigen, die das am besten organisieren können.
Viele staunen, dass die zuvor bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus fernen Ländern gerügten Polen und Ungarn jetzt gegenüber Hilfsbedürftigen aus dem Nachbarland so hilfsbereit sind. Waren Sie auch überrascht?
Nein. Und zwar deshalb, weil die Polen und die anderen Nachbarn an den Grenzen zur damaligen Sowjetunion genau wissen, worum es jetzt geht. Sie haben ihre eigenen Erfahrungen mit dem sowjetischen System gemacht. Sie haben die Menschenverachtung und auch die Gewaltbereitschaft russischer Armeen zum Teil am eigenen Leib erfahren.
Zudem sprechen viele im Westen der Ukraine polnisch. Das ist von der Sprache her so ähnlich wie Deutsch und Holländisch. Man kann sich verständigen, wenn man möchte. Die Menschen haben eine ähnliche Kultur, zum Teil auch eine ähnliche Geschichte.
Man muss sich auch klarmachen, dass Polen über Jahrhunderte hinweg bis ans Schwarze Meer als Großpolen-Litauen ein dominanter Faktor des Lebens der Menschen war. Eine analoge Situation wäre es bei uns, wenn eine solche Notsituation in Österreich passieren würde. Da würden wir in Bayern auch unseren österreichischen Freunden sofort und mit ganz großer Selbstverständlichkeit helfen.
Moldau gehört zu den ärmsten Ländern in Europa, auch in Rumänien gibt es viel Armut. Können diese Länder auf Dauer den Flüchtlingsstrom bewältigen?
Wir stehen in stetigem Kontakt mit unseren Partnern in Moldawien. Im Moment ist die Solidarität und die Bereitschaft, auch dort zu helfen, sehr groß. Auch die finanzielle Ausstattung, die das Land von vielerlei Institutionen und Organisationen bekommt, ist ausreichend.
Aber wir müssen uns darauf einstellen, dass dieser Krieg länger dauern wird. Und in zwei, drei Monaten wird es notwendig sein, dass wir verstetigte Hilfe und Unterstützung leisten. Da steht Renovabis Gewehr bei Fuß. Da sind wir willens und auch fähig, sehr schnell zu helfen. Wir bereiten uns auch jetzt strategisch auf mittelfristige Hilfe vor. Also auf das, was jenseits der direkten humanitären Unterstützung in den nächsten Jahren an Integrationsarbeit, aber auch an Wiederaufbau in der Ukraine notwendig sein wird.
Von der katholischen Kirche in der Ukraine wird berichtet, dass sie auch unter Beschuss ihre Seelsorge fortsetzt und die Bevölkerung sowie die Flüchtlinge unterstützt. Was erfahren Sie über den Einsatz der Kirche in Zeiten des Kriegs?
Als der Krieg ausbrach, sind alle Botschafter aus Kiew evakuiert worden – außer dem Apostolischen Nuntius. Alle Pfarrer der römisch-katholischen wie auch der griechisch-katholischen Kirche sind am Ort geblieben – bis auf ganz wenige Ausnahmen. Aber auch die allermeisten orthodoxen Priester sind bei ihren Gemeinden geblieben und helfen den Menschen in Not.
Wir als Renovabis unterstützen das und helfen dem Klerus auch finanziell in seiner Lebensführung. In Kriegszeiten hat man dort kein Spendenaufkommen, keine Kollekte.
Damit auch das Überleben der Priester und Ordensgemeinschaften sowie der Familien der griechisch-katholischen Priester gewährleistet ist, haben wir ein relativ großes Programm aufgelegt, mit dem wir vor Ort die tägliche Arbeit der Geistlichen unterstützen können. Sie lassen ihre Gemeinden wirklich nicht alleine, engagieren sich teilweise im Osten der Ukraine auch unter Lebensgefahr bei den Menschen. Wir zahlen ihnen die Gehälter und gewähren so eine Daseinshilfe.