Die Friedhofsmenschen von Cebu

Sie leben zwischen den Toten

Präsident Rodrigo Dutertes Krieg gegen Drogen hat bereits Tausende Todesopfer gefordert. Dazu kommt islamistischer Terror. Die Philippinen sind derzeit oft in den Schlagzeilen. Weniger bekannt, obwohl gravierend: die wachsende Schere zwischen Arm und Reich. Viele Menschen sind gezwungen, in Slums zu leben – oder auf dem Friedhof.

Wer Inik Zuniga erzählen hört, dass ihre Familie und all ihre Nachbarn auf dem Friedhof von Cebu leben, vermutet erst, es handle sich um ein Verständigungsproblem. Vermutlich wollte sie sagen, „in einer Hüttenstadt am Rande des Friedhofs“ – denkt man.
Doch wer sich mit ihr auf die „Backstreet-Tour“ der Großstadt wagt, erfährt alsbald, dass da kein Missverständnis vorliegt: Rund 50 Familien leben tatsächlich innerhalb der Friedhofsmauern in der öffentlichen Gräberanlage der Stadt. Sarkophage dienen als Betten und Küchentische – und die Kinder spielen auf den Grabplatten, unter denen die Toten ruhen.
Cebu-City, auf einer Insel gelegen, ist die wohl am schnellsten wachsenden Stadt auf den Philippinen. Fast eine Million Menschen leben mittlerweile hier, doppelt so viele wie vor 25 Jahren. 1565 wurde hier die erste spanische Siedlung auf den Philippinen gegründet. Das Magellan-Kreuz in der Stadt erinnert an jenen Ort, von dem während der Weltumsegelung des Spaniers Ferdinand Magellans 1521 die Missionierung der Philippinen ausging.
Heute brummt die Wirtschaft in Cebu. Die Vermarktung von Bodenschätzen, die Computerbranche  und der Tourismus spülen der wohlhabenden Elite reichlich Geld in die Kassen. Aber es liegt auch vieles im Argen – wie auf den ganzen Philip­pinen: Die Kluft zwischen Arm und Reich ist immens. 20 Millionen Menschen leben landesweit bereits unter prekären Bedingungen in Slums. Die Allerärmsten „wohnen“ sogar auf Mülldeponien – oder eben auf Friedhöfen.  
In der Stadtmitte von Cebu sind die Wohnungen unbezahlbar geworden. Manche der Menschen vom Friedhof mussten ihre Hütten im Zentrum für Neubauprojekte räumen. Andere flohen vor der eskalierenden Gewalt, vor Drogen und Prostitution – und wohnen nun als Lebende unter den Toten. In den steinernen Mausoleen des Carreta-Friedhofs finden ganze Familien Unterschlupf – oftmals geduldet von den reichen Besitzern der Grabdenkmäler.
Inik Zuniga, die alleinerziehende Mutter von vier Kindern, verdient sich ein Zubrot mit geführten Wanderungen auf die Schattenseite der wachsenden Stadt. Wer sie fragt, ob es sich hier um einen verlassenen Friedhof handle, der längst stillgelegt wurde, wird von ihr eines Besseren belehrt. Ja, es mag schockierend klingen: Da, wo die Friedhof-Kinder leben und spielen, finden täglich Begräbnisse und Beerdigungen statt.
Der Friedhof liegt nicht weit außerhalb der Stadt, sondern direkt neben dem geschäftigen Business-Center von Cebu-City. Das Nebeneinander von bürgerlicher Geschäftswelt und extremer Armut ist auf den Philippinen nichts Außergewöhnliches. Und das Nebeneinander von Leben und Tod ist für die Gemeinschaft auf den Gräberfeldern zur Selbstverständlichkeit geworden.
Inik führt die Teilnehmer ihrer Wanderung zu Osvaldo Diaz. Der Familienvater arbeitet mit seinen Kollegen dort, wo sie alle auch wohnen: auf dem Friedhof. Sie erbringen Arbeiten und Dienstleistungen, die anderswo von Bestattungsunternehmen oder der Stadtverwaltung übernommen würden – etwa die, alte Grabsteine abzuschleifen, um sie mit neuen Beschriftungen für die „Gäste“ zu versehen, die hier zur ewigen Ruhe kommen sollen.

Keine ewige Ruhe

Doch mit der „ewigen Ruhe“ ist es so eine Sache auf dem Carreta-Friedhof in Cebu. Sie währt nicht ewig: Die Stadt wächst unaufhaltsam und es muss Platz geschaffen werden für neue Verstorbene. Schon fünf Jahre nach der Beerdigung werden die sterblichen Überreste der Männer und Frauen von Cebu vom Team um Osvaldo in ein Beinhaus, die Knochenkammer, gebracht.
Das heruntergetropfte Wachs der Kerzen, die Trauernde vor den Gräbern ihrer Angehörigen entzünden, kratzen die Kinder abends von den Steinen ab. Daraus werden am nächsten Tag im Zuber über dem Feuer neue Kerzen gezogen und an Friedhofbesucher verkauft. Auch Blumen können am Verkaufsstand auf der geweihten Erde erworben werden. Dies ist die Haupteinnahmequelle für die meisten Bewohner – auch für Inik Zuniga, die Führerin der Friedhofsbesichtigung.
Ihre Tour führt in Winkel des Friedhofs, die einen Einblick in den Alltag der Bewohner erlauben. In den Mausoleen haben sie sich häuslich eingerichtet, mit Teppichen, Wäscheleinen und Wandbildern. Hühner picken zwischen den Grabstellen. Sanitäre Einrichtungen gibt es nicht – aber einen kleinen Laden.
Trotz ihrer Armut betteln die Familien nicht. Mit Stolz und Würde wollen sie sich aus eigener Kraft helfen. Die desolaten Lebensbedingungen, die sie für sich hier vorfinden, scheinen sie zu akzeptieren. Man merkt: Diese Menschen haben den Willen und die Hartnäckigkeit, unter diesen Bedingungen zu überleben.

Jenseits der Gräber

Für die Teilnehmer der Friedhofs­tour ist es ein Wechselbad der Gefühle: Mal tritt Betroffenheit zutage, mal blankes Entsetzen angesichts der Menschen, die hier buchstäblich zwischen den Toten leben. Es ist makaber zu sehen, wie die Kinder ihre Hausaufgaben auf den Gräbern machen. Aber immerhin: Diese Kinder erhalten eine Schulbildung und haben so vielleicht eine Zukunft draußen, jenseits der Gräber.
Für die Menschen hier ist das Leben auf dem Friedhof Alltag. Dass nebenan einige Männer einen Hahnenkampf austragen – normal. Die farbenprächtigen Hähne werden wie Könige behandelt. Jeder bewundert sie. Auf dem angrenzenden chinesischen Friedhof sprießt sogar Gemüse zwischen den Grabplatten. Hühner picken in den Rasenfeldern nach Futter. Auch eine Gruppe Mastschweine wird gehalten.
Seit den 1950er Jahren leben Menschen auf dem Carreta-Friedhof: Schon ihre Mutter, erzählt Inik, sei da geboren worden. Hier sei sie aufgewachsen, hier habe sie sich verliebt und ihre Kinder zur Welt gebracht. Ihr ganzes Leben habe sie hier verbracht – und eben hier habe sie auch ihre letzte Ruhestätte gefunden.
Seit gut zehn Jahren kümmert sich die private Hilfsorganisation ANCE um die Friedhofsmenschen von Cebu. Ins Leben gerufen wurde die „Action for Nurturing Children and Environment“ (etwa: Projekt zur Förderung von Kindern und Umwelt) 2006 von Pater Max Abalos. ANCE will die Armen und Ausgegrenzten durch Bildung und Gemeinschaftsförderung unterstützen.
Vor allem Kinder und Jugendliche sollen eines Tages in anderen Verhältnissen leben. Dazu müssen sie regelmäßig in den Kindergarten oder in die Schule gehen. Da es schwierig wäre, diese Kinder und Jugendlichen in öffentlichen Einrichtungen unterzubringen, bringt ANCE den Schulunterricht einfach zu ihnen. Der Kindergarten und die Grundschule auf dem Friedhof sind bereits Realität.  

Karl Horat

16.11.2017 - Ausland