Aragons populärer Brauch

Sie trommeln, bis das Blut fließt

Kurz vor Mitternacht kommt Leben ins Dorf, füllen sich in Híjar die Straßen. Alt und Jung sind auf den Beinen. Wie immer am späten Abend des Gründonnerstags zieht es die Menschen Richtung Marktplatz. Kleine Trommeln haben die Damen unter dem Arm, große Pauken die Herren vor den Bauch geschnallt. Andächtig sind die einen, ausgelassen die anderen. 

Je mehr sich der Karfreitag nähert, je mehr die Uhr Richtung Mitternacht rückt, desto mehr verstummen die Gespräche. Fast unheimlich ist die Stille, bis um 24 Uhr ein dumpfer Schlag ertönt. Bumm! Wie jedes Jahr haut der Bürgermeister auf eine riesige Pauke. Es ist der Auftakt zur lautesten Nacht des Jahres, zu einem lärmenden Inferno, das die Ohren bis zur Schmerzgrenze strapaziert.

Wie in Híjar hauen Punkt Mitternacht auch in einer Handvoll umliegender Gemeinden Tausende auf die Pauke, strapazieren wie Besessene ihre großen und kleinen Trommeln. „Romper la hora“ heißt der Brauch, mit dem man im Herzen Spanien des Leidens und Sterbens Christi gedenkt. 

Dünn besiedelte Region

Was früher in Nieder-Aragonien nur ein Stück lokaler Volksfrömmigkeit war, ist in der dünn besiedelten Region zwischen Madrid und Barcelona inzwischen Touristenattrak­tion. In Calanda, das sich selbst gern Trommelhauptstadt nennt, hat man den Brauch deshalb auf Karfreitagmittag verlegt. Dann strapazieren hier Tausende von Lärmenden die Ohren. Das spanische Fernsehen ist live dabei. Die Trommler Aragoniens konkurrieren auf dem Bildschirm mit den Büßern Andalusiens, den großen Karprozessionen in Sevilla oder Málaga.

In Aragonien ist die „Romper la hora“ mehr als der Höhepunkt der Karwoche. Es ist ein kollektiver Freudenrausch, beseelt von Wein, Bier und Schnäpsen, die längst zu Spaniens Karfreitagsriten gehören. Das gemeinsame Trinken – so deuten es manche Kulturforscher – erinnere an das letzte Abendmahl, mit dem Christus einst Abschied von seinen Jüngern nahm. 

Über die Ursprünge des Brauchs ist viel gerätselt worden. So macht in Calanda die Sage die Runde, dass am Karfreitag 1127 ein Schäfer mit wildem Getrommel die Dorfbewohner vor dem Überfall maurischer Ritter gewarnt habe. Seither werde in Calanda getrommelt. Verlässliche Quellen aber reichen allenfalls ins späte Mittelalter zurück. 

So sind im frühen 16. Jahrhundert in Híjar von Franziskanern organisierte Umzüge trommelnder Bruderschaften belegt. Trommeln und Trompeten riefen die spanischen Gläubigen zwischen Gründonnerstag und Ostersonntag übrigens auch zum Gottesdienst. Das Läuten der Kirchenglocken war in dieser Zeit verboten. 

Populär wurde der Brauch nach dem Tod von Diktator Francisco Franco 1975, als sich das demokratische Spanien für neue Formen der Volksfrömmigkeit öffnete. Neun Gemeinden schufen mit der „Ruta del Tambor y Bombo“ („Route der Trommel und Pauke“) eine neue touristische Marke, die schließlich zum Fest von nationalem Interesse deklariert wurde. Mit den Fremden, die jetzt kamen, wuchs in den Dörfern die Lust am Trommeln weiter. Allein im 3500-Einwohner-Städtchen Calanda verdreifachte sich die Zahl im vergangenen halben Jahrhundert.

Wer den Ton angibt

Waren es ursprünglich nur Männer, so gehören heute auch junge Frauen zu den Trommlern. Eine von ihnen ist Maria, die mit fünf anderen Trommlerinnen vor der Disco in Híjar ihr Karfreitagsbier trinkt. Ausgelassen malträtieren sie immer wieder ihre Pauken – als wollten sie den Burschen zeigen, wer heute den Ton angibt. Zusammen bilden sie eine „Cuadrilla“, wie die Spanier die einzelnen Trommelgruppen nennen, die in Bruderschaften, Freundeskreisen oder familiären Verbänden organisiert sind. 

Manchmal sind es nur drei oder vier Leute, oft aber Gruppen von 30 und mehr. Hauen alle synchron auf ihre Felle, ist der Höhepunkt der Tamborada erreicht. Minuten kann die dauern, aber auch fast eine Stunde wie in den Trommelhochburgen Híjar oder Calanda. 

Inzwischen gilt das gemeinsame Trommeln in Nieder-Aragonien als das wichtigste Stück regionaler Identität. Mancherorts ist fast die Hälfte des Dorfs in der Karwoche beim großen Trommeln dabei – Tausende Menschen, die den Prozessionen während der Karwoche ihren Stempel aufdrücken. Dann marschieren sie in Kolonnen, außen die Trommler, innen die Männer und Frauen mit den Pauken, zwischen den einzelnen Pasos. 

Bilder vom Leiden Christi

Die Pasos sind dreidimensionale Bilder vom Leiden und Sterben Christi, die sich in fast jeder spanischen Kirche finden und von Palmsonntag an durch die Straßen der Dörfer und Städte getragen werden. Jesu Einzug nach Jerusalem zeigen sie ebenso wie seinen Kreuzweg, seine Schmähungen und Verhöhnungen, aber auch Maria, die leidende Muttergottes. 

Bumm-Bumm-Bumm! So hallt es durch die Dörfer entlang der Trommelroute. Mehr als 24 Stunden sind die Tapfersten unterwegs, manche mit blutverschmierten Fingern. Längst hat sich die Haut von den Knöcheln gelöst, tropft frisches Blut auf die Felle der Pauken. Rostrot werden sich die Flecken nächstes Jahr zeigen, sichtbarer Beweis für die Leidenschaft, die keinen Schmerz kennt. Nur Weicheier, heißt es, tragen Handschuhe oder binden sich ein Tuch um die Knöchel.

Günter Schenk

Hintergrund: 

Die „Romper la hora“  – frei übersetzt: „Zerschlagen der Stunde“ oder „Bruch der Zeit“ – soll an den Tumult bei Jesu Gefangennahme erinnern, vor allem aber an das Beben der Erde, das den Kreuzestod Jesu der biblischen Schilderung zufolge begleitete. 

Der Brauch wurzelt in der „Tenebrae“, einer alten Form der Karmette, die an Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag früh morgens in der dunklen Kirche gefeiert wurde. Dabei klopfte man gerne mit Steinen oder Stöcken auf die Kirchenbänke oder stampfte laut mit den Füßen auf, um die Geschichten von Jesu Gefangennahme durch die Häscher des Hohen Rats oder andere Stellen der Passionsgeschichte zu unterstreichen. 

Später wurden die Krachmacher aus den Gotteshäusern verbannt – nicht zuletzt, weil sie schwere Schäden an den Bauten verursacht hatten. Das Lärmen aber ließen sich die Aragonesen nicht nehmen. Primitivstes Schlagwerk wie Klappern, Ratschen, Kesseln und Blechschüsseln, mit denen man anfangs durch die Dörfer zog, wurde durch fellbespannte Trommeln und Pauken ersetzt. 

Im Zentrum der Karmetten, hierzulande auch als Rumpel- oder Pumpermetten bekannt, steht der Tenebrae-Leuchter auf dem Altar, der meist auf zwei Seiten jeweils sieben ansteigend angeordnete Kerzen trägt. Sie stehen für die elf Apostel ohne den Verräter Judas und die drei Marien: Maria Salome, Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Apostels Jacobus, die als Zeuginnen der Auferstehung Christi gelten. 

Zu Beginn der Karmette sind alle Kerzen erleuchtet, von denen nach jeder Lesung oder Antiphon eine gelöscht wird. Am Schluss brennt in der Regel nur noch eine große Kerze am Altar, die sogenannte Christus-Kerze.

Günter Schenk