Vor 100 Jahren, am 31. Juli 1919, wurde die Weimarer Reichsverfassung beschlossen, am 11. August trat sie in Kraft – und mit ihr der „Ablösebefehl“, der die sogenannten Dotationen an die Kirchen eigentlich beenden sollte. 100 Jahre später zahlen die Bundesländer noch immer rund 550 Millionen Euro an die katholischen Bistümer und die evangelischen Landeskirchen – Gelder, die in Seelsorge, Krankenversorgung oder Kinderbetreuung fließen.
Grund für den Geldfluss ist die größte Gebietsumverteilung in der deutschen Geschichte. Am 25. Februar 1803 beschlossen die Reichsstände im Reichsdeputationshauptschluss die Entschädigung für die an Frankreich verlorenen linksrheinischen Gebiete. Kirchliche Besitzungen wurden säkularisiert. Territorium und landesherrliche Gewalt von 112 rechtsrheinischen Reichsständen wurden weltlichen Fürstentümern übertragen.
Ein weltliches und zwei geistliche Kurfürstentümer, 19 Reichsbistümer, 44 Reichsabteien und 45 von 51 Reichsstädten waren betroffen. Ohne Widerstand der Bevölkerung oder der Kurie wechselten rund 10 000 Quadratkilometer geistlicher Herrschaftsgebiete mit geschätzt 3,2 Millionen Einwohnern, etwa einem Siebtel der damaligen reichsdeutschen Bevölkerung, ihren Herrscher.
Selbst in der DDR gezahlt
Preußen war einer der großen Gewinner. Das Land erhielt zum Ausgleich für die linksrheinischen Gebiete, die es an Napoleon verlor, fünf Mal so viele rechtsrheinische Flächen. Mit einem Schlag wuchs die Bevölkerung Preußens um eine halbe Million Menschen. Für die verlorengegangenen Bistümer und Ländereien erhielten die Kirchen fortan Ausgleichszahlungen. Selbst im „Dritten Reich“ und in der betont säkularen DDR wurden diese Leistungen nicht eingestellt.
„Die Zahlen steigen von Jahr zu Jahr“, sagt Theologe Andreas Fincke, Leiter der Evangelischen Stadtakademie in Erfurt. „Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland sind etwa 20 Milliarden Euro an die beiden Kirchen geflossen.“ Auf diese Dotationen wollen die Kirchen nicht verzichten, bestätigt Prälat Martin Dutzmann, Bevollmächtigter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union.
Bis 280 Millionen Euro
„2,2 Prozent am Gesamthaushalt, das sind ungefähr 270 bis 280 Millionen Euro“, rechnet Dutzmann vor, machen die Dotationen bei den deutschen Protestanten aus. Das sei aber je nach Landeskirche sehr unterschiedlich: „Zum Beispiel hat die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland einen viel höheren Anteil ihres Haushalts, den sie aus Staatsleistungen decken muss, als etwa die Evangelische Kirche im Rheinland.“
Welche Reichtümer genau der Kirche 1803 weggenommen wurden und wie viel diese noch wert sind, kann auch die Kirche nicht sagen. „Unmittelbare Zahlungen von Bischofsgehältern an die Begünstigten gab es bis 2012 wohl nur noch in Bayern. Nach wie vor werden diese Gehälter aber vom Freistaat Bayern gezahlt, sodass sie sich nicht völlig ununterscheidbar in Pauschalleistungen auflösen, wie dies in anderen Ländern der Fall ist“, heißt es bei der Deutschen Bischofskonferenz.
Niemand erfüllt den "Ablösebefehl"
So weit – so juristisch einwandfrei. Nur gibt es seit genau 100 Jahren den Auftrag, die Dotationen abzulösen, also letztlich zu beenden. Das steht seit 1919 in Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung, der so auch ins Grundgesetz übernommen wurde. Nur: Geschehen ist seitdem nichts. Keine deutsche Regierung hat sich je daran gemacht, diesen „Ablösebefehl“ zu erfüllen.