Mauerfall-Gedenken am 9. November

Terror gegen Andersdenkende

Immer deutlicher belegen Aktenfunde, wie skrupellos die DDR mit Oppositionellen umging. Selbst vor Attentaten und Mordversuchen schreckte das SED-Regime nicht zurück, zeigt ein neues Buch der einstigen Bürgerrechtlerin Freya Klier.

Das Jahr 1976 gilt Historikern als Schlüsseljahr im Niedergang der DDR. 13 Jahre vor seinem Sturz im Vormonat des Mauerfalls verfügte Erich Honecker die Ausweisung des Liedermachers Wolf Biermann. Wenige Monate später verbrannte sich Pastor Oskar Brüsewitz öffentlich vor der Michaeliskirche in Zeitz aus Protest gegen die „Unterdrückung von Kindern und Jugendlichen“ an Schulen der DDR. 

Beide Ereignisse lösten eine Protestwelle aus, die bis zum Herbst 1989 nie ganz abebbte. „Die Flammen loderten weiter“, kommentierte eine deutsche Wochenzeitung 30 Jahre später das Geschehen nach dem Freitod des Pastors. Erst 2006 entschuldigte sich das frühere SED-Parteiorgan „Neues Deutschland“, indem es nachträglich kritische Leserbriefe aus der Zeit nach der Brüsewitz-Tat veröffentlichte.

Honecker im Zenit der Macht 

SED-Generalsekretär Honecker stand 1976 nach seiner Wahl zum Staatsratsvorsitzenden im Zenit der Macht – zumindest war das die subjektive Wahrnehmung der Parteioberen. „1976 erließ Erich Mielke, Honeckers Minister für Staatssicherheit, die berüchtigte Richtlinie 1/76, die Opposition gegen den SED-Alleinherrschaftsanspruch schon im Keim ersticken sollte“, sagt der Berliner Historiker Karsten Krampitz.

Der Buchautor hat sich in zahlreichen Publikationen mit dem „Krisenjahr“ 1976 beschäftigt.  Schon damals zeichnete sich der Niedergang der DDR ab, gegen den sich die Genossen mit immer neuen, teils skurrilen Ideen zu stemmen versuchten: so etwa 1978 mit einem Gebräu namens „Kaffee-Mix“. Mit ihm sollte der Mangel an Rohkaffee kaschiert werden.

Gift an der Autotür

Um Einfälle war auch das Ministerium für Staatssicherheit nicht verlegen. Gehörte physische Gewalt noch bis Ende der 1960er Jahre zu seinem offen gezeigten Waffenarsenal, verlagerte das MfS seine Methoden mit der Richtlinie 1/76 zunehmend ins Verborgene, wobei an Autotüren anhaftende Gifte, fingierte Autounfälle und radio­aktive Verstrahlungen erprobte Mittel im Kampf gegen Andersdenkende waren. Das belegt die frühere DDR-Bürgerrechtlerin Freya Klier in ihrem neuen, bei Herder erschienenen Buch „Unter mysteriösen Umständen“

Zuständig war der „Operativ-Technische Sektor“, der als Tüftelwerkstatt für alle Stasi-Sauereien fungierte. „Mit der Richtlinie 1/76 sollte der Terror des Geheimdienstes nicht mehr sichtbar durch Prügel und Tod erfolgen, sondern so, dass er nach außen nicht sichtbar wurde, Opfer unbemerkt blieben und die um internationale Anerkennung buhlende DDR ihr Gesicht wahren konnte“, sagt Historiker Uwe Pusch­ner von der FU Berlin.

Mit Krediten finanzierte die SED in den 1970er Jahren ihr Sozialprogramm „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ – in der Hoffnung, sich damit die politische Loyalität der Bevölkerung zu erkaufen. Der Kreditbedarf und die Geldnot setzten dem SED-Staat immer mehr zu. Fehlinvestitionen häuften sich. Wer die Probleme öffentlich anprangerte, lebte gefährlich.

Auf der Mordliste

Buchautorin Klier stand selbst viele Jahre im Visier der Staats­sicherheit – und auf ihrer Mordliste. Im Herbst 2019 meldete sich bei ihr telefonisch ein ehemaliger Stasi-­Offizier, der nach eigenen Angaben an Krebs im Endstadium litt und Klier für „das in der DDR an ihr begangene Unrecht um Vergebung“ bat. 

Dabei erfuhr sie, dass sie und ihr Mann Stephan Krawczyk, der mit regimekritischen Liedern aufgefallen war, vom MfS getötet werden sollten. Das Attentat am 8. November 1987 schlug fehl – weil Kraw­czyk das offenbar manipulierte Fahrzeug gerade noch zum Stehen brachte, bevor es in einen Brückenpfeiler raste. 

Kritiker bekamen es mit der Stasi zu tun

Als potenzielles Mordopfer war Klier kein Einzelfall. Fußballtrainer Jörg Berger, der Sportlern bei der „Republikflucht“ geholfen haben soll, wurde offenbar vergiftet, schreibt die Bürgerrechtlerin. Er überlebte. Fußballer Lutz Eigendorf hatte weniger Glück: Er kam 1983 bei einem wohl fingierten Auto­unfall ums Leben.

Wer immer es in der DDR wagte, sich dem Machtanspruch der SED entgegenzustellen, bekam es mit der Staatssicherheit zu tun. Sie war stets die treue Erfüllungsgehilfin der Partei – auch wenn Honecker nach seinem Sturz gerne eine Trennlinie zwischen sich und den „Sicherheitsorganen“ zog. 

Tradition der Tscheka

Das MfS sah sich in der Tradition der sowjetischen Tscheka, der Geheimpolizei, die nach der Oktoberrevolution gegründet worden war und sich zur Terrormaschinerie gegen Andersdenkende entwickelte. Noch in den 1980er Jahren schwärmte Stasi-Chef Mielke von Tscheka-Gründer Feliks Dzierzynski, der als Namensgeber für das Stasi-Wachregiment fungierte. 

Meist dienten dort Zeitsoldaten, die im Herbst 1989 in Zivil auftraten und die Drecksarbeit gegen Demonstranten erledigten: jugendliche Schläger in Blouson und Schnittkanthose, die aus dem Nichts auftauchten und Bürger festnahmen, die sie für Regimegegner hielten. Doch deren Zahl wuchs. Schließlich waren es so viele, dass die rote Diktatur kapitulierte – und am 9. November 1989 die Tore in den Westen öffnete.

Benedikt Vallendar

05.11.2021 - DDR , Deutschland , Politik