Flugzeugkatastrophe vor 20 Jahren

Tod über dem Bodensee

Mehr als 70 Tote, auseinandergerissene Familien, eine Ferienregion in Schockstarre und ein Schrecken, der mit der Katastrophe nicht endete: Vor 20 Jahren kollidierten über dem Bodensee zwei Flugzeuge. Niemand an Bord überlebte. Nahe Überlingen, wo die Trümmer auf die Erde regneten, erinnern zwei Gedenkstätten an die Opfer der schlimmsten Luftfahrttragödie in der Geschichte der Bundesrepublik.

Es geschah in der Nacht vom 1. auf den 2. Juli 2002 – für Fluglotse Peter Niel­sen, Flugverkehrsleiter bei der Schweizer Flugsicherungsgesellschaft Skyguide in Zürich, zunächst ein Abend wie unzählige zuvor. Gegen 23.20 Uhr meldet sich DHL-Flug 611 aus Bergamo bei Skyguide an. Als Bezirkskontrollstelle ist das Schweizer Unternehmen mit der Flugsicherung im äußersten Süden Baden-Württembergs betraut – später sollte das Landgericht Konstanz dies als rechtswidrig verurteilen.

Auf Anfrage von Kapitän Paul Phillips gestattet Nielsen der Frachtmaschine einen Anstieg auf rund elf Kilometer – ohne zu bemerken, dass sich auf derselben Flughöhe bereits ein anderes Flugzeug nähert: eine Tupolew der russischen Gesellschaft Bashkirian Airlines. An Bord von Flug 2937 befinden sich 69 Menschen, die meisten davon Schulkinder aus der russischen Republik Baschkortostan rund um Ufa.

Mensch und Warnsystem machten ungleiche Anweisungen

Weil der zweite Fluglotse gerade Pause hat, muss Peter Nielsen zwei Radarschirme beaufsichtigen und ist einen Moment abgelenkt. Sofort, als er die gefährlichen Flugbewegungen erkennt, befiehlt er der Tupolew, in den Sinkflug zu gehen. Nahezu zeitgleich ordnet an Bord das Kollisionswarnsystem den Steigflug an. Kapitän Alexander Gross und seine Cockpit-Crew sind irritiert, gehorchen aber dem Fluglotsen.

DHL-Kapitän Phillips folgt derweil der Anweisung seines Warnsystems und geht mit seiner ­Boeing ebenfalls in den Sinkflug – die beiden Maschinen befinden sich nun erst recht auf Kollisionskurs! Als Gross ein Ausweichmanöver beginnt, ist es bereits zu spät. Um 23.35 Uhr zertrümmert die DHL-Maschine den Rumpf der Tupolew und lässt sie nördlich von Überlingen abstürzen. Die Boeing trudelt noch ein paar Kilometer durch die Luft und kracht bei Taisersdorf in einen Wald.

Auf dem Weg in die Ferien

71 Menschen sterben, darunter 49 Kinder. Die Schüler, die bei dem Unglück zu Tode kommen, waren auf dem Weg nach Barcelona zu einer Ferienfreizeit, an der sie als Belohnung für herausragende schulische Leistungen teilnehmen durften. Weil ihr Bus den Moskauer Flughafen zu spät erreichte, waren sie gezwungen, auf die Unglücks­maschine umzubuchen. Ihre Familien sollten die Kinder nie mehr wiedersehen.

Das Sterben endet indes nicht in jener Nacht: Fluglotse Peter Niel­sen sollte zum 72. Opfer der Tragödie werden – knapp zwei Jahre nach dem Unglück. Obwohl technische Probleme 2002 zur Kollision beitrugen, ist Nielsen für Witali Kalojew, der bei Überlingen seine Frau und zwei Kinder verlor, ein Mörder. Gerade einmal vier Jahre alt war Kalojews Tochter Diana, das jüngste Opfer des Unglücks. Noch während die Schweizer Staatsanwaltschaft wegen fahrlässiger Tötung ermittelt, lauert Kalojew dem 36-jährigen Nielsen im Februar 2004 auf und ersticht ihn.

Zwar trägt Nielsen eine Mitverantwortung für die Kollision, doch versagt hat auch die Technik: Bei Skyguide funktionierten die Telefone nicht, und auch das bodengestützte Kollisionswarnsystem war außer Betrieb. Die Besatzung der Tupolew, betonten Luftfahrtexperten, hätte statt auf Nielsen auf die Warnungen an Bord hören müssen.

Technische Probleme

Massive technische Probleme gab es auch kürzlich wieder bei Sky­guide. Mehrere Stunden lang waren Mitte Juni in der gesamten Schweiz weder Flugzeugstarts noch Landungen oder Überflüge möglich. Der gesamte Luftraum war gesperrt. Offenbar hatte es Schwierigkeiten mit der Computertechnik gegeben. Menschliche Eingriffe, etwa einen Hackerangriff, schloss Skyguide aus.

Bis heute ist das Unglück über dem Bodensee in der Ferienregion nicht vergessen. Viele Menschen in Überlingen und Umgebung erinnern sich an jene Nacht, als plötzlich der Himmel in Flammen zu stehen schien und furchtbare Explosions­geräusche die nächtliche Stille zerrissen. Zwei Gedenkstätten halten die Erinnerung an die Katastrophe und die 71 Opfer des 1. Juli 2002 wach. 

Dort, wo der Rumpf der Tupolew aufschlug und die meisten Todesopfer geborgen wurden, im Gebiet Höllwängen beim Überlinger Ortsteil Brachenreute, ziehen übergroße Edelstahlkugeln die Blicke auf sich. Wie silberne Glieder einer zerrissenen Perlenkette liegen sie am Rand eines Wäldchens, das mit Birken, Eschen und Sibirischen Zirbelkiefern bepflanzt ist. 

Verwelkte Blumen

An der dreiteiligen Gedenktafel, die in deutscher und russischer Sprache beschriftet ist, liegen Grablichter, verwelkte Blumen und Abfall und erlauben eine Ahnung von Vergänglichkeit. Die Namen und Geburtsdaten der Opfer zeigen: Ganze Familien wurden durch das Unglück brutal auseinandergerissen.

Welch ein Kontrast zu der beinahe idyllischen Szenerie der Gedenkstätte. Dreht man sich von ihr weg, schweift der Blick über Felder, Wiesen und Wälder und entfernte Hausdächer zum Bodensee. Dessen Wasser liegen ganz friedlich da – als hätte sich hier nicht vor 20 Jahren eine der schlimmsten Tragödien der deutschen Luftfahrtgeschichte ereignet. 

Ein kleines steinernes Herz

Rund acht Kilometer weiter, zwischen den Owinger Ortsteilen Happenmühle und Taisersdorf, liegt eine weitere Edelstahlperle. Hier starben die Piloten der DHL-Maschine, als ihr Cockpit auf der Erde aufschlug. Fotos zeigen die beiden Männer, den Briten Paul Phillips und den Kanadier Brent Campioni. Angehörige haben Steine auf das Denkmal gelegt. Ein kleines steinernes Herz verkündet: „Ihr fehlt uns.“

Kein Parkplatz lädt hier zum Verweilen ein. Nur ein kleiner, leicht zu übersehender Wegweiser weist den Weg. Die Gedenkstätte taucht einfach nach einer Kurve am Rand der Kreisstraße auf. Ein paar Meter neben der Fahrbahn geht man einen halb zugewucherten Weg hinunter – dann steht man neben der Perle, die hier im Wald wie ein irritierender Fremdkörper wirkt. Irritierend wie das Unglück selbst.

Ukraine-Krieg und Sanktionen erschweren Gedenken

Am 20. Jahrestag der Katastrophe wird an beiden Absturzstellen der Opfer gedacht: an der Gedenkstätte Höllwängen am 1. Juli um 18 Uhr, bei Taisersdorf mit einem Gedenkgottesdienst um 19 Uhr. Ob Angehörige der russischen Opfer teilnehmen können, war bis zuletzt nicht klar. Wegen des Kriegs in der Ukraine und der westlichen Sanktionen gegen Russland blieb eine offizielle Einladung durch die Behörden aus.

„Die Hinterbliebenen würden gerne kommen“, heißt es auf Anfrage unserer Zeitung vom Vorstand des Freundeskreises „Brücke nach Ufa“, der seit Jahren den Kontakt nach Russland aufrecht erhält. „Leider spielt bei den Vorbereitungen die politische Einstellung eine wesentliche Rolle.“ Erst vorige Woche habe man vom deutschen Generalkonsulat in Jekaterinburg erfahren, „dass Visa ausgestellt werden können“.

Keine Direktflüge

Erst wenn sie ihr Visum bekommen haben, erläutert der Verein, könnten die Angehörigen die benötigten Flugtickets bestellen – „wenn es welche passend gibt“. Direkt­flüge von Russland nach Deutschland sind wegen der Sanktionen nicht möglich. Also gelte es, „über Umwege“ zum Bodensee zu gelangen. „Deshalb ist es schwierig zu sagen, ob es uns gelungen ist, die Anreise zu organisieren.“

Durch die Invasion in der Ukraine steht der Jahrestag der Flugzeugkatastrophe ganz im Zeichen der Zerwürfnisse zwischen Ost und West. Der politischen Lage zum Trotz hofft man bei der „Brücke nach Ufa“ auf ein würdiges Gedenken. „Keiner von uns will Krieg. Das ist kein Mittel, um Konflikte und Probleme zu lösen“, betont der Freundeskreis.

Mit Russland will man dennoch in Verbindung bleiben – und die Beziehung im Zeichen von Frieden und Völkerverständigung weiterentwickeln. „Für uns“, heißt es in einer Erklärung des Vorstands, „ist Russland ein großes Land mit Zukunft und Werten und einer großartigen Kultur.“

Thorsten Fels

24.06.2022 - Deutschland , Gedenken , Katastrophe