Rekordjahr auf dem Jakobsweg

„Wo sich alle Völker treffen“

Der Dauerbrenner Jakobsweg hat 2018 einen neuen Rekordzulauf verzeichnet und seinen Ruf als bekannteste christliche Pilgerroute der Welt untermauert. Wie das Pilgerbüro in der spanischen Apostelstadt Santiago de Compostela jetzt bekanntgab, erhielten im vergangenen Jahr 327 342 Ankömmlinge, darunter 25 294 Deutsche, ihre Pilgerurkunde. Damit wurden alle früheren Bestmarken übertroffen. Die bisherigen datierten aus den Jahren 2017 (301 036), 2016 (277 854) und dem heiligen Jakobusjahr 2010 (272 417).

Voraussetzung für den Erhalt des Diploms ist es, dass jemand per Stempelfolgen im Pilgerausweis nachweisen kann: Er hat mindestens die letzten 100 Kilometer bis Santiago zu Fuß zurückgelegt oder die finalen 200 Kilometer mit dem Fahrrad absolviert. Rechnet man organisierte Reisegruppen und sonstige Besucher hinzu, ist das Apostelgrab des heiligen Jakobus in der Kathedrale von Santiago de Compostela im vorigen Jahr erneut  von mehreren Millionen Menschen beehrt worden.

„Was zögerst du?“

„Die Vielzahl der Gläubigen, die sich auf dem Weg nach Santiago befinden, und derer, die von dort zurückkommen, ist derart groß, dass fast kein Fleckchen auf der gesamten befestigten Straße gen Westen mehr frei ist“, soll im Mittelalter ein maurischer Bote seinen Befehlsgebern vermeldet haben. Und in einer Predigt aus dem um 1120 entstandenen Codex Calixtinus hieß es: „Was zögerst du, Freund des heiligen Jakobus? Brich nach Santiago de Compostela auf, dort, wo sich alle Völker treffen.“ 

Der Verfasser jenes wegweisenden Sammelwerks zum Jakobuskult verbreitete zugleich Mirakel, die Parallelen zu den Wundern Jesu erkennen ließen: Stumme, die dank der Santiago-Pilgerschaft ihre Sprache wiederfanden, Taube, die plötzlich wieder hören, und Blinde, die auf einmal wieder sehen konnten.

Glaube versetzt Berge. Und er versetzt Menschen von überall her in Scharen in den äußersten Nordwestwinkel der Iberischen Halbinsel. Das war vor Jahrhunderten so. Und auch die heutige Jakobsweg-Begeisterung speist sich aus diesen Quellen. Wunder hin oder her: Es geht um Glaube und das, was überdauert.

Nicht jeder folgt religiösen Anstößen, auch unter den echten Pilgern mit Ausweis nicht. Immerhin 43 Prozent der letztjährigen Urkundenempfänger gaben jedoch rein religiöse Gründe für den Aufbruch an. Bei 48 Prozent war die Motivation religiös-kulturell bestimmt. Auf die Sparte „nur kulturell“ entfielen lediglich neun Prozent.

Wer nach Gründen für den anhaltenden Jakobswegboom sucht, kommt an den Stichworten Selbstfindung und Auszeit nicht vorbei – und damit auch nicht an einer kritischen Analyse der Leistungsgesellschaft mit dem chronischen Stressfaktor Alltag. Konkurrenzdruck, Hektik, Ansprüche nehmen überhand. Termin folgt auf Termin, SMS auf SMS, E-Mail auf E-Mail. Überall erfordern Beruf und Freizeit ein präzises Zeitmanagement. 

Umso öfter kreisen die Gedanken um Ausweg und Halt, um ein Endlich-zur-Ruhe-Kommen, um Besinnung und Werte, das eigene Sein. Was hat mich zu dem gemacht, der ich bin? Wo will ich hin? Wer gibt mir Anstöße, Stütze, Inspiration? 

Auf der Suche nach neuen Zielen und Wirklichkeiten treibt es manche auf Marathon- und Tria­thlonstrecken, zu Grenzerfahrungen zwischen Himmel und Erde, ins Sabbatjahr, zur Auszeit ins Kloster, zur bewussten digitalen Entgiftung, zu Meditationen. Oder eben auf den Jakobsweg, wobei es verschiedene Strecken zu unterscheiden gilt. 

Klassiker beim Rekordjahr 2018 war, wie immer und diesmal von 186 187 Pilgern frequentiert, der Französische Weg: von den Pyrenäen über Burgos, León und Ponferrada. Alternativen bieten der Portugiesische Weg aus Portugal, der Nordweg parallel der spanischen Atlantikküste und die Vía de la Plata aus Andalusien. Manche Pilger brechen auch direkt aus der Heimat auf und sind Wochen, Monate unterwegs, bis sie in Santiago de Compostela eintreffen. Über den vermeintlichen Umweg der Pilgerschaft kommen nicht wenige zugleich bei sich selbst und bei Gott an.

Andreas Drouve

08.01.2019 - Ausland , Heilige , Wallfahrt