Fehler bei Missbrauchsaufarbeitung

Schwere Vorwürfe gegen Benedikt XVI.

Das am Donnerstag vorgestellte Münchner Missbrauchsgutachten belastet den früheren Papst Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger) schwer. Die Anwälte der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) werfen ihm zum einen Fehlverhalten in vier Fällen während seiner Amtszeit als Erzbischof von München und Freising (1977-1982) vor.

Zum anderen äußern sie im besonders gravierenden Fall des Priesters Peter H. deutliche Zweifel an der von ihm behaupteten Unkenntnis. Diese sei mit den aus den Akten gewonnenen Erkenntnissen "kaum in Einklang zu bringen". Auch die Angabe, bei einer wichtigen Sitzung nicht anwesend gewesen zu sein, sei "wenig glaubwürdig", da das offizielle Protokoll ihn an mehreren Stellen erwähne. Ratzingers komplette Stellungnahme wird mit seiner Einwilligung zusammen mit dem Gutachten veröffentlicht.

Rechtsanwalt Martin Pusch erklärte bei der Vorstellung des Gutachtens, es gehe unter anderem um zwei Priester, die unter Erzbischof Ratzinger wegen Missbrauchs strafrechtlich sanktioniert worden waren, aber beide weiter als Seelsorger arbeiten durften. Kirchenrechtlich sei gegen sie nicht vorgegangen worden, von Fürsorge gegenüber ihren Opfern sei "nichts erkennbar".

Die Kanzlei WSW sieht im Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum München und Freising in insgesamt 42 Fällen ein Fehlverhalten noch lebender kirchlicher Verantwortungsträger. So wird dem früheren Erzbischof, Kardinal Friedrich Wetter, Fehlverhalten in 21 Fällen vorgeworfen, dem amtierenden Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, in 2 Fällen.

Marx halten die Anwälte zudem vor, seiner Verantwortung als Leiter des Erzbistums nicht genügend gerecht worden zu sein: "Wann, wenn nicht im Fall des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger ist die Einordnung einer Thematik als Chefsache zutreffend?", fragte Pusch. Eine gewisse Änderung habe sich erst ab 2018 ergeben.

Insgesamt haben die Gutachter 235 mutmaßliche Täter von 1945 bis 2019 ermittelt, darunter 173 Priester. Die Zahl der Geschädigten, so Pusch, liege bei 497. Die meisten Taten seien in den 1960er und 1970er Jahren begangen worden. Auffällig viele Vorwürfe seien erst ab 2015 gemeldet worden. Der Anwalt betonte, bei diesen Zahlen handle es sich um das "Hellfeld", das "Dunkelfeld" sei vermutlich weitaus größer.

Pusch ergänzte, Geschädigte seien bis 2002 von den Kirchenverantwortlichen "so gut wie überhaupt nicht wahrgenommen worden", falls doch, "dann nicht aufgrund des ihnen zugefügten Leids, sondern weil man sie als Bedrohung für die Institution sah".

Anwältin Marion Westpfahl rügte zu Beginn das Fernbleiben von Kardinal Reinhard Marx. Diese Entscheidung sei vor allem bedauerlich mit Blick auf das Interesse Missbrauchsbetroffener, "wahrgenommen zu werden". Marx hat für den Nachmittag eine Stellungnahme angekündigt.

Mit Blick auf die Zukunft rieten die Anwälte, unbedingt einen geschützten Raum zu schaffen, in dem Betroffene offen reden könnten, ohne Vertretern der Kirche gegenüberzusitzen. Die Perspektive der Opfer müsse viel konsequenter als bisher im Blick sein. Außerdem müssten dringend die betroffenen Pfarreien einbezogen werden.

KNA

20.01.2022 - Aufarbeitung , Missbrauch , Papst