Missbrauchsstudie für Münster:

"System" der Vertuschung um Höffner, Tenhumberg und Lettmann

Neben den Bistümern Aachen und Köln lässt auch die Diözese Münster das Thema Missbrauch aufarbeiten. Forscher zeigen erste Ergebnisse zum Umgang mit den Fällen. Über als Ikonen verehrte Bischöfe legen sich Schatten.

Missbrauch eines Minderjährigen - Versetzen in eine neue Gemeinde - wieder Missbrauch - wieder Versetzen. Wenn katholische Geistliche in den Nachkriegsjahrzehnten sich an Minderjährigen sexuell vergingen, dann konnten sie mit großer Nachsicht ihrer Vorgesetzten rechnen - am Mittwoch vorgestellte Zwischenergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung machen dies am Beispiel des Bistums Münster fest. Die Studienautoren bescheinigen dem späteren Kölner Kardinal Joseph Höffner, der von 1962 bis 1969 die Diözese Münster leitete, und seinen Nachfolgern Heinrich Tenhumberg (1969-1979) und Reinhard Lettmann (1980-2008) ein "intensives Leitungs- und Kontrollversagen".

Vier Historiker und eine Ethnologin nehmen seit einem Jahr die Missbrauchsfälle der Diözese zwischen 1945 und 2018 unter die Lupe. Sie arbeiten unter Leitung von Wissenschaftler Thomas Großbölting im Auftrag des Bistums Münster, aber unabhängig. Bislang wurden mehrere hundert Akten ausgewertet und etwa 70 Interviews geführt. Die Forscher kommen auf mindestens rund 300 Betroffene und 200 Beschuldigte. Auf der Basis von rund einem Viertel zufällig ausgewählter Fälle - also 82 Betroffenen und 49 Beschuldigten - gibt es nun die ersten Ergebnisse.

Demnach ist ein Großteil der Fälle Mehrfachtätern zuzuschreiben. Die Forscher nennen hier etwa den verstorbenen Heinz Pottbäcker oder den 87-jährigen A. Die Priester hätten von Höffner, Tenhumberg oder Lettmann gestoppt werden können. Dem standen aber mehrere Gründe entgegen, sagen die Wissenschaftler: Die Bischöfe seien den einschlägigen Priestern nicht nur als Vorgesetzter oder Richter begegnet, sondern vor allem als geistlicher Begleiter, der seinem Mitbruder "seine Sünden zu vergeben" hatte.

Zwar hätten die Oberhirten eine Therapie verordnet. Doch die sehr kirchennahen Psychiater hätten den Tätern eine positive Prognose für den weiteren Seelsorgeeinsatz attestiert. Personalverantwortliche hätten regelmäßig alles für eine Versetzung vorbereiten können - in der sicheren Erwartung, dass das grüne Licht vom Therapeuten schon komme. In manchen Fällen sei das bis zu 25 Jahre so gegangen.

Den Bistumschefs war laut Großbölting durchaus klar, dass es sich um eine heikle Materie handelte. Das spiegelten die Akten, die nicht den Eindruck machten, als seien sie "systematisch frisiert" worden. Vielmehr zeigten sie, dass die Missbrauchsfälle erst gar nicht verschriftlicht und auch die Gespräche darüber in den Personalkonferenzen bewusst nicht protokolliert worden seien. Eine Strafvereitelung beobachten die Wissenschaftler aber nicht nur im kirchlichen Umfeld, sondern auch "auf Seiten der Rechtspflege".

Auf Vertuschung zielte den Angaben zufolge auch der Umgang mit den Familien der Betroffenen ab. Gegen die Zusage, den einschlägigen Geistlichen zu versetzen, seien die Eltern der Opfer dazu gedrängt worden, über das Vorgefallene zu schweigen und vor allem auf eine Anzeige zu verzichten. Teils habe auch die Gemeinde Druck auf Familien ausgeübt - nach dem Motto: Wenn der Pfarrer einmal was Verkehrtes gemacht hat, muss man ihn doch nicht gleich anzeigen. Betroffene hätten befürchtet, dass ihre Familie in der Gemeinde in Ungnade fallen könnte.

Vor allem Altbischof Lettmann beschäftigt die Forscher. Der promovierte Kirchenrechtler stand mehr als 25 Jahre an der Bistumsspitze - und viele seiner Mitarbeiter wurden später in anderen Diözesen tätig. Es stelle sich die Frage, ob sich dort ein "System Lettmann" etabliert habe. Für eine Wende im Umgang mit den Missbrauchsfällen hat laut Wissenschaftler der Vatikan 2001 mit seiner Vorgabe an die Ortsbischöfe gesorgt, sämtliche einschlägige Fälle nach Rom zu melden und Seilschaften aufzulösen. Inzwischen sei weltweit zu beobachten, dass Bischöfe abgesetzt würden, wenn sie dies nicht beachteten.

Wie Münster lassen auch andere Bistümer Missbrauchsfälle extern untersuchen. So stellte die Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) unlängst ihr Gutachten für die Diözese Aachen vor. Ihre Untersuchung für das Erzbistum Köln darf sie vorerst nicht präsentieren. Befürchtet werden unter anderem Rechtsstreitigkeiten mit ehemaligen oder aktiven Entscheidungsträgern, deren Namen genannt werden sollen.

Wenn Großbölting im Frühjahr 2022 seine Studie abschließt, will er wie WSW die Namen nennen von "relativen Personen der Zeitgeschichte, wenn sie vertuscht haben". Dabei orientiere er sich am Stasi-Unterlagengesetz. Er behaupte aber "keine Gerichtsfestigkeit". Hier gelte es abzuwägen: Denn ohne Namensnennung gebe es keine Aufklärung.

Andreas Otto/KNA

02.12.2020 - Bischöfe , Bistum , Missbrauch