Neue Studie

Ruhrbistum Essen verzeichnet mehr Betroffene von Missbrauch

Das Bistum Essen verzeichnet wesentlich mehr Betroffene sexualisierter Gewalt und Täter als bisher bekannt. Seit der Gründung vor 65 Jahren gibt es mindestens 423 Fälle und Verdachtsfälle. Die Zahlen mit Stand Februar 2023 legte das Ruhrbistum selbst am Dienstag bei der Vorstellung einer Aufarbeitungsstudie vor. Danach sind insgesamt 201 Personen beschuldigt, darunter 129 Geistliche und 19 Ordensfrauen. 2018 verzeichnete eine bundesweite Studie für die Essener Diözese nur 60 beschuldigte Geistliche sowie 85 Betroffene seit der Gründung 1958.

Das Münchner Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) hat in Kooperation mit dem Berliner Institut für Bildung und Forschung Dissens vor allem die systemischen Ursachen der sexuellen Gewalt erforscht. Für die sozialwissenschaftliche Studie wurden dabei in den vergangenen drei Jahren Personal- und Geheimakten des Bistums ausgewertet.

Zudem führten die Forscher Interviews mit Betroffenen und Gruppengespräche in Gemeinden. Eine Haupterkenntnis ist, dass das Ruhrbistum bis 2010 unzureichend oder gar nicht auf Verdachtsfälle reagiert habe. Wegen dieser mangelnden Verantwortungsübernahme und der Versetzung von Tätern sei die sexualisierte Gewalt nicht gestoppt worden. Bis 2010 seien auch keine Bemühungen des Bistums festzustellen, Betroffene zu unterstützen oder ausfindig zu machen.

Im Gegensatz zu Studien anderer Bistümer benennt die Essener Untersuchung Verantwortliche nur am Rande, etwa den heutigen Münsteraner Bischof Felix Genn, der von 2003 bis 2009 Bischof von Essen war. Dazu sagte sein Nachfolger Franz-Josef Overbeck bei der Präsentation: "Ich weigere mich, eine Person zum Sündenbock zu machen." Er als Bischof übernehme für sein Bistum die Verantwortung, "indem ich das ganze System anschaue".

Helga Dill (IPP) und Malte Täubrich (Dissens) nahmen besonders die von Missbrauch betroffenen Kirchengemeinden unter die Lupe. Sie hätten die Fälle oft verdrängt und sich häufig mit den Tätern solidarisiert. Die Pfarrer als geweihte Männer seien idealisiert, Betroffene dagegen sozial ausgegrenzt und ihr Leid geleugnet worden. Bistumsverantwortliche hätten zudem die Gemeinden meist im Unwissen gehalten, anstatt über Vorwürfe und konkrete Fälle zu informieren.

Ab 2010 sei dann ein hartes Durchgreifen gegenüber den mittlerweile betagten Tätern zu erkennen, worin die Forscher den Ausdruck eines institutionellen Schuldgefühls sehen. Ein Konzept für den Umgang mit straffälligen Klerikern fehle aber weiterhin. 2010 wurde der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche bekannt, nachdem erste Vorfälle am Canisius-Kolleg in Berlin veröffentlicht und danach viele weitere Fälle öffentlich wurden.

Overbeck zeigte sich selbstkritisch: Die Bischöfe hätten nicht nur Betroffene vernachlässigt, sondern auch Kirchengemeinden alleine gelassen. Nun gelte es, "sich ehrlich zu machen" und die Aufarbeitung professioneller aufzustellen.

Generalvikar Klaus Pfeffer forderte, die Glorifizierung des Ruhrbistums zu beenden, das immer wegen seiner angeblichen Bodenständigkeit idealisiert worden sei. Gerade die Zeit unter dem ersten Bischof, Kardinal Franz Hengsbach, weise die meisten Meldungen an Missbrauchsfällen auf. Hengsbach stand der Diözese von 1958 bis 1991 vor.

Overbeck und Pfeffer kündigten Konsequenzen aus der Studie an. Für konkretere Aussagen müsse man die Ergebnisse aber noch genauer auswerten. Für Zahlungen der Diözese an Betroffene, die über die Anerkennungsleistungen hinausreichen und beispielsweise Therapiekosten umfassen, solle es transparente Regeln geben. Gemeinden würden mehr Unterstützung bei der Prävention bekommen. Zudem sieht das Bistum in der zum 1. Februar zusammengeführten Verwaltung des geistlichen Personals und der Verwaltungskräfte einen Schritt zu mehr Transparenz.

Der Sprecher des Betroffenenbeirats bei der Deutschen Bischofskonferenz, Johannes Norpoth, betonte, dass viel Leid hätte verhindert werden können, wenn die Kirche "nicht so menschenverachtend" gehandelt hätte. Nach der sozialwissenschaftlichen Untersuchung müsse nun weiter jeder einzelne Fall aufgearbeitet und die persönlichen Verantwortlichkeiten benannt und beurteilt werden. Da stünden dem Bistum noch große Aufgaben bevor.

Ähnlich äußerte sich Christian Toussaint, Vorsitzender des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) in der Diözese. Gegenüber dem "Neuen Ruhrwort" forderte er deutlich mehr Unterstützung für die Gemeinden bei der Präventionsarbeit. Entsprechende Konzepte dürften nicht nur in den Schubladen liegen, sondern müssten auch im Alltag umgesetzt werden. "Hier erleben wir im Kontakt mit der Amtskirche noch zu oft, dass dies nicht ausreichend geschieht", kritisierte Toussaint. Er sehe eine "Überforderung von ehrenamtlichen Strukturen mit diesem Thema".

Annika Schmitz & Andreas Otto/KNA

15.02.2023 - Aufarbeitung , Bistum , Missbrauch