"Reduktion ärgert mich"

Thierse kritisiert wechselseitige Ost-West-Pauschalisierungen

Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat wechselseitige pauschale Verurteilungen zwischen West- und Ostdeutschen kritisiert. "Diese eigentümliche Reduktion der Ostdeutschen auf Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus, auf Jammern, Schimpfen und Klagen - das ärgert mich. Und gerade diejenigen, die sich als Ostdeutsche empfinden, müssten sich ausdrücklich dagegen wehren", sagte er beim "Sachsensofa" der Katholischen und Evangelischen Akademie in Meißen.

Scharf kritisierte Thierse das neue Buch "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" des ostdeutschen Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann, das eine breite Debatte ausgelöst hat. "Was mich bei Oschmann ärgert, ist so eine typische, negative Ossi-Haltung", sagte der SPD-Politiker, der sich selbst als jahrelange "Stimme für Ostdeutschland" in der Politik bezeichnete.

"Ich habe den Eindruck, dass wir Ostdeutschen immer noch so eine Art Rucksack mit uns schleppen, eine Art Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen", erläuterte Thierse. "Wir sind ja jeden Abend via Fernsehen in den Westen ausgewandert. Der Westen war immer der Maßstab für uns. Und gegenüber dem Westen waren wir immer die Schlechteren, die Schwächeren, die Zweitklassigen." Das äußere sich bis heute auch darin zu sagen, der Westen sei an allem schuld. "Da sage ich: Umdrehen! Darauf blicken, was haben wir in den 30 Jahren zustande gebracht." Es sei nicht hilfreich, dass man sich "im Ton des Jammerns und des Vorwurfs gegen die anderen richtet".

Ähnlich sieht es die Präsidentin der Synode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, Bettina Westfeld: "Mit Pauschalurteilen und -zuschreibungen sind wir noch nie weit gekommen." Sie rief die Ostdeutschen auf, selbstbewusst ihre Stimme im gesamtdeutschen Diskurs zu erheben. "Je mehr Gruppen sich zu Wort melden, umso weiter sind wir im Zusammenwachsen - und da sind wir auf einem guten Weg."

Thierse hob hervor: "Die deutsche Wiedervereinigung ist nicht nur ein politischer, rechtlicher, ökonomischer Prozess, sondern auch ein wesentlich schwierigerer Prozess der Verständigung, der Kommunikation, der Veränderungen von Mentalitäten und Einstellungen und des Selbstverständnisses." Er beobachte vor allem eine West-Ost-Ungleichheit der Sicherheiten und Gewissheiten. Die gegenwärtige massive Umbruchsphase mit Globalisierung, Digitalisierung und anderem treffe in Ostdeutschland auf Menschen, die in den vergangenen 30 Jahren bereits eine dramatische Veränderung zu überstehen hatten: "Und nicht alle waren gleich erfolgreich. Das wirkt nach. Das muss man ernst nehmen, darauf muss man hören, und das muss zur Sprache gebracht werden."

KNA

26.04.2023 - Deutschland , Gesellschaft , Politik