Domkapellmeister im Interview:

„Niemand geht bei uns in der Masse unter“

AUGSBURG – „Ein Chor ist nur so gut wie sein Chorleiter“, lautet ein Sprichwort. 1976 hat Reinhard Kammler (63) die Augsburger Domsingknaben wieder ins Leben gerufen – und seither sind sie immer besser geworden. Davon können sich die Besucher bei „Bach in Rokoko“, Günzburgs Kultkonzerten, am Wochenende überzeugen. Beim Redaktionsbesuch der Katholischen SonntagsZeitung verriet der Domkapellmeister, was die Augsburger Domsingknaben ausmacht und was er in Zukunft mit ihnen plant. 

Herr Domkapellmeister, als Sie die Augsburger Domsingknaben wieder ins Leben gerufen haben, waren Sie noch Student. Hatten Sie keine Angst vor dieser Herausforderung?

Zwei Persönlichkeiten am Dom aus dieser Zeit bin ich bis heute dankbar. Sie haben meinen beruflichen Weg geprägt: Bischof Josef Stimpfle, der in der Liturgie die Tradition von Knabenstimmen wiederbeleben wollte, und Domkapellmeister Rudolf Brauckmann, der ihm für diese Aufgabe den jungen Musikstudenten Reinhard Kammler vorgeschlagen hat. 

Beide haben mich in jeder nur denkbaren Weise unterstützt – nicht nur in der Aufbauphase des Knabenchores, als ich noch an der Münchner Musikhochschule studierte. Eingebettet in eine intakte Dommusik musste mir nicht bange werden. Das ungeheure Vertrauen, das mir Bischof Stimpfle damals entgegenbrachte, versuche ich bis heute zu rechtfertigen.

An diesem Wochenende veranstalten Sie bereits zum 16. Mal das Festival „Bach in Rokoko“ in der Frauenkirche Günzburg (siehe Hinweis). Warum an diesem Ort?

Diese traumhaft restaurierte Rokokokirche mit ihrer vortrefflichen Akustik hat sich 2003 als Festivalort angeboten. Über unseren Augsburger Wirkungskreis hinaus wollte ich in der Diözese mit besonderen Programmkonzepten für meine Domsingknaben einen zusätzlichen Akzent setzen.

Die Domsingknaben sind aber nicht nur in der Diözese Augsburg zu hören … 

Das stimmt. Wir sind immer wieder unterwegs. Angefragte Konzertprojekte im In- und Ausland gehören zu unserem Chorleben. Sie sind für die Sänger ein zusätzlich attraktiver Anreiz. Ob es nun a cappella Konzerte sind, Engagements mit berühmten Orchestern oder Dirigenten wie demnächst wieder mit Kent Nagano oder Daniel Harding oder ausgedehnte Konzertreisen wie zuletzt nach China … Ich freue mich, dass die Augsburger Domsingknaben auch international gefragt sind.

Gerät bei den vielen Reisen und Konzerten das eigentliche Kerngeschäft der Domsingknaben, die Gestaltung der Liturgie am Dom, nicht etwas in den Hintergrund?

In unseren Chorjahresberichten sind stets etwa 40 liturgische Dienste aufgelistet. In Relation gesetzt zu den 52 Jahreswochen sieht man deutlich, dass unsere Domsingknaben in der Liturgie ihr Zentrum haben. Dazu kommt mein Anspruch, kompromisslos hochkarätige und authentische musica sacra im Gottesdienst zu pflegen. Quantität und Qualität bedingen sich. Bei Veranstaltern und Produzenten bis hinauf in das obere Segment der professionellen Klassikszene sind wir deshalb ständig gefragt. Wir haben uns dort bestens etabliert, ohne unsere Kernaufgabe zu beeinträchtigen.

Kann jeder Junge ein Domsingknabe werden? Wie läuft die Ausbildung ab?

Natürlich! Jeder Bub ist uns willkommen. Idealerweise sollte er schon im Alter von fünf Jahren zu unserer Musikalischen Früherziehung angemeldet werden. Der künftige Domsingknabe durchläuft später im Lauf der Jahre mehrere spannende Chorstufen und kann bei uns ein Musikinstrument erlernen. Nach der Mutation (Stimmbruch, Anm. der Redaktion) setzen fast alle ihr anspruchsvolles Hobby als Tenor oder Bass fort. 

Was ist Ihnen neben der musikalischen Entwicklung wichtig?

Wichtig ist mir, den jungen Menschen durch die Beschäftigung mit wertvoller Kirchenmusik eine zusätzliche und nachhaltige religiöse Prägung mitzugeben, die das Verständnis für die Institution Kirche hinsichtlich ihrer kulturellen Identität und musikhistorischen Bedeutung wieder stärker bewusstmacht. 

Im Gegensatz zu vielen anderen Knabenchören haben die Augsburger Domsingknaben kein Internat. Warum?

Weil wir keines brauchen. Unser Angebot ist ohne Internat attraktiver und zeitgemäßer: Wir bieten jedem Domsingknaben eine fundierte Musikerziehung an ein bis zwei Tagen in der Woche und machen für diese Zeit den Familien ein sinnvolles Betreuungsangebot im Haus St. Ambrosius. Schule und andere Hobbys kommen nicht zu kurz. Ein vergleichbarer Internatschor vereinnahmt seine Sänger dagegen in jeder Hinsicht total. Zudem halte ich für die Buben das tägliche Leben im familiären Umfeld für natürlicher.

Was zeichnet die Augsburger im Vergleich zu anderen Domsingknaben aus?

Charakteristisch für die Augsburger Domsingknaben ist die konsequente Ausbildung der einzelnen Stimme bis hin zum podiumsreifen Knabensolisten für die „Profiszene“. Niemand geht bei uns in der Masse unter. Mein Team und ich bemühen uns, jeden einzelnen Sänger in allen Chorstufen optimal und individuell zu fördern. 

Was waren die Sternstunden Ihrer künstlerischen Laufbahn und Ihres Chores?

Das war zum einen 1994 die persönliche Anfrage von Prälat Georg Ratzinger, seine Nachfolge als Domkapellmeister in der Leitung der Regensburger Domspatzen anzutreten. Dieser völlig unerwartete Ruf hat mich aufs Tiefste bewegt, ja erschüttert. Nach einer für meine Familie und mich nicht einfachen Bedenkzeit bin ich aber letztlich der Diözese Augsburg treu geblieben. Ich war dankbar, als Georg Ratzinger für meine Entscheidung Verständnis zeigte. Wir haben bis heute noch besten Kontakt.

Neben vielen hochkarätigen Begegnungen im kirchlichen und profanen Bereich gilt für mich der 4. Dezember 2009 als absoluter Höhepunkt meines Berufslebens: In Anwesenheit seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. und Bundespräsident Horst Köhler führten die Augsburger Domsingknaben in der Sixtinischen Kapelle des Vatikans das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach auf. Offizieller Anlass war das Jubiläum „60 Jahre Bundesrepublik, 20 Jahre Mauerfall“.

Sie selber sind ein Musiker aus Leidenschaft. Das haben Sie auch an Ihren Sohn weitergegeben …

… und an meine Tochter Julia, die aber Musik nicht beruflich betreibt, sondern beim Bayerischen Rundfunk arbeitet. Mein Sohn Johannes hat nach seinem Studium in Freiburg, Toronto und London eine atemberaubende Karriere als Konzert- und Opernsänger gestartet. Bisher im Ensemble der Bayerischen Staatsoper, singt er ab dieser Spielzeit im Ensemble der Staatsoper Stuttgart. Dazu kommen ständig Gastspiele wie kürzlich bei den Salzburger Festspielen. Er hat seine Wurzeln bei den Augsburger Domsingknaben aber nie vergessen. Ein terminlicher Glücksfall ist für mich sein Auftritt bei Händels „Messias“ in Günzburg.

Mit 42 büßten Sie bei einem Schlaganfall viel Beweglichkeit und Ihre Stimme ein. Woher nahmen Sie die Kraft, sich wieder zurück zu kämpfen?

Dabei haben mir der liebe Gott und meine Frau geholfen. Dieser schwere Schicksalsschlag kam völlig unvermittelt während einer Chorprobe. In meiner anfangs äußerst kritischen Krankheitsphase ohne Bewusstsein war meine Frau sehr tapfer und hat für mich die ärztlichen Behandlungen entschieden.

In den langen Wochen in der Klinik und in der Reha brachte ich zähen Willen und Disziplin auf, um meine erheblichen Beeinträchtigungen zu überwinden. In dieser schweren Situation relativiert sich vieles. Mein seit der Kindheit gefestigter Glaube an Jesus Christus und mein Vertrauen auf die Fürsprache der Gottesmutter hat mir im Gebet geholfen, mich mit Gottes Hilfe zurück zu kämpfen.

Welche Pläne haben Sie mit den Domsingknaben noch? Oder denken Sie vielleicht schon bald ans Aufhören?

Derzeit laufen meine Planungen für die liturgische Musik im Dom zum neuen Kirchenjahr 2018/19, das mit dem Advent beginnt. Unser Konzertkalender für die nächsten Monate ist bereits randvoll. Natürlich wird irgendwann meine Nachfolge zu regeln sein. Im guten Zusammenwirken mit der Diözese wird es dann eine tragfähige Lösung geben. Da bin ich sicher. 

Interview: Romana Kröling und Johannes Müller

Hinweis

Beim Festival „Bach in Rokoko“ an diesem Wochenende, 28. bis 30. September, laden die Augsburger Domsingknaben und das Residenz-Kammer­orchester München unter der Leitung von Reinhard Kammler zu drei Konzerten in die Günzburger Frauenkirche ein. Am Freitag stehen ab 19 Uhr Werke von Wolfgang Amadeus Mozart und Joseph Haydn auf dem Programm. Das Oratorium „Der Messias“ von Georg Friedrich Händel in englischer Sprache wird am Samstag um 19 Uhr und Sonntag um 16 Uhr aufgeführt. Restkarten sind an der Abendkasse erhältlich.