Kleider aus Plastiktüten und Tetra-Paks

Ein Poet der Materialien

AUGSBURG – Wo andere Abfall sehen, sieht Stephan Hann Gestaltungsmöglichkeiten. Der Berliner Modekünstler näht aus Dingen, die ausgedient haben und wertlos erscheinen, einzigartige Kleider. Es ist extravagante Mode, die tragbar wäre, aber nicht getragen wird, es ist Kunst und gleichzeitig meisterliches Handwerk.

Lange bevor Upcycling, das Aufhübschen von Gegenständen, die ihre besten Jahre hinter sich haben, ein Trend wurde, hat Stephan Hann begonnen, Mode aus scheinbar unnützen Materialien zu kreieren, und zwar mit der Nähmaschine. Die Leidenschaft für das Nähen hatte er schon als Kind entdeckt. Das Handwerk erlernte er während einer Ausbildung zum Herrenmaßschneider an der Deutschen Oper Berlin. Anschließend studierte er Mode und Kostümbild an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Dann zog es ihn in die Hauptstadt der Mode nach Paris, wo er mit Loulou de la Falaise, der langjährigen Assistentin von Yves Saint Laurent, zusammenarbeitete, und schließlich nach Wien.

Heute lebt er in Berlin, für ihn ein Ort der Erinnerungen. Hann ist 1970 geboren und in einem Haus an der Mauer in West-Berlin mit Blick auf den Osten der Stadt und den Streifen, der beide Teile trennte, aufgewachsen. Er empfand es als absurde Situation, die sich ihm nachhaltig eingeprägt hat. So zieht sich das Thema Erinnerung durch sein ganzes Schaffen. „Ich arbeite vor allem mit Materialien, die dabei sind zu verschwinden“, erklärte er bei der Eröffnung der Ausstellung „Phoenix – Modewelten“ im Textil- und Industriemuseum Augsburg (tim), die bis 29. Juli zu sehen ist. Er will Bewahrer von Alltagsgegenständen sein, an die sich vielleicht bald niemand mehr erinnern wird, und hebt, was nur beiläufig betrachtet und wahrgenommen wird, ins Bewusstsein. Wie die glänzenden Innenseiten von Tetra-Paks, die kleingeschnitten oder gerissen, schuppenförmig zusammengesetzt als Cocktailkleid und Overall weiterleben. „Hann ist ein Magier von Stoffen, ein Poet von Materialien, es geht ihm um den einzigartigen Wert von alltäglichen Dingen. Sie verwandeln sich unter seiner Hand zu wertvoller Kunst“, sagt Museumsleiter Karl Borromäus Murr.

Es scheint nichts zu geben, was Stephan Hann nicht verwerten, nicht zu „Geweben der Erinnerung“ verarbeiten kann: Telefonbuchseiten, Taschentücher, Architekturpläne, alte Fotos, Briefmarken, Druckerpapiere, Etiketten und vieles, was sonst mit leichter Hand im Abfall landet. Er spielt nicht nur künstlerisch damit, er will auch auf Konsum und Wegwerfmentalität aufmerksam machen und Geschichten erzählen. Beispielsweise mit den Modellen, die aus leeren Medikamentenverpackungen, sogenannten Blistern, bestehen, deren Inhalt eine Freundin in einem Jahr einnehmen musste. Sein eigener Jahresverbrauch an Plastiktüten hat ihn erschreckt, er stellte damit als Konsumbiografie die Kollektion „Plastiktütenkleider“ zusammen.

Die Materialien wie alte Spitzen, Fotos, französische Armee-Portemonnaies, Visitenkarten und Zelluloidstreifen findet er größtenteils auf Flohmärkten. Gestaltet er für Auftraggeber, wie den Champagner-Hersteller Moët, dann lässt er sich geben, was er braucht, in diesem Fall die Metallkapseln von Flaschenkorken. Oder auch Hochglanzdrucke, um ein Kleid für die Firma Lexmark zu erschaffen. 

Kasel aus Jeans

Vom Benediktinerstift Admont in der Steiermark kam eine Anfrage, ob er auch Kirchengewänder arbeiten würde. Hann gestaltete für die Mönche drei Kaseln, eine davon aus Jeans-Stoff mit applizierter Stickerei. Ein Pater, der sie tragen sollte, sei anfangs etwas unsicher gewesen, weil er in seinem ganzen Leben noch nie eine Jeanshose angehabt habe, berichtete Hann. Dann habe er sich aber wohlgefühlt in dem ausgefallenen liturgischen Gewand. Aus dem Hochzeitskleid der Mutter einer Besucherin der Admonter Klostermuseen schuf er eine andere Kasel und stickte Psalmen darauf. „Auf der dritten Kasel, die ursprünglich ein Teil einer Wandbespannung eines Potsdamer Schlosses war, ist auf der Rückseite ein abstrahierter Pilgerweg dargestellt“, beschreibt Hann.

In der Ausstellung in Augsburg sind zwei weitere Kaseln zu sehen. Für eine diente Malervlies als Ausgangsstoff, verziert mit einer verkehrt herum angebrachten Stickerei aus dem 19. Jahrhundert. Für die zweite Jeans-Kasel nahm der Künstler gebrauchten Hosenstoff von Gläubigen.

„Kirchengewänder sind eine spannende Ausformung von Kleidung, weil sie die Herrlichkeit Gottes darstellen, und wenn sie aus ganz alltäglichen Materialien bestehen, zeigen sie die Menschwerdung Gottes, der den Alltag mit den Menschen teilt, bis in die ärmsten Schichten hinein“, urteilt der ehemalige Jesuitenschüler Murr.

Das Stift Admont, zu dem vier Museen gehören, zeigt Kaseln von Stephan Hann im Sommer in der Ausstellung „Schönheit & Anspruch“ im Bereich Altäre und sakrale Kleider. Roswitha Mitulla

26.04.2018 - Bistum Augsburg , Kunst