Traditionelle Handwerkskunst in Dießen am Ammersee

Bezaubernde Miniaturwelten aus Zinn

DIESSEN – Ihre Geburt geschieht blitzschnell bei 400 Grad Hitze. Deshalb müssen die Geburtshelfer feuerfeste Schutzhandschuhe tragen, wenn sie Engel, Christbäume oder auch Alltagsszenen aus silbrigem Zinn gießen. „Am laufenden Band“, lacht Zinngießerin Sylvia Koller, „kommt heute eine Hexe nach der anderen aus der Form.“ Sagt’s und wirft die kleine Märchenfigur wieder in den Schmelz­ofen, weil sie gerade ausführlich das alte Handwerk der Zinngießerei erklärt und kurz unaufmerksam war. 

Mit einem Ruck wie weiland Hänsel und Gretel die alte Hex‘ in den Backofen geschoben haben, verschwindet die Zinnfigur im Tiegel und ist binnen Sekunden wieder flüssige Legierung. Die Zinnmanufaktur Wilhelm Schweizer in Dießen ist ein Paradies mit Miniaturen, die Märchenfiguren, Szenen aus längst vergangenen Zeiten oder aus dem bayerischen Brauchtum zeigen. Hier marschieren Armeen, da tanzen Trachtler und auf der anderen Seite durchpflügen Raddampfer den Ammersee. Zur Weihnachtszeit spielen Engel und Nikoläuse die Hauptrolle. Hunderte von Figuren zum Schmücken des Christbaums und Dekorieren der Weihnachtsstube erzählen Geschichten und verzaubern die Besucher. 

Bis die kleinen Gestalten so weit sind, dass sie im Laden mit dem historischen grünen Kachelofen und den vielen gläsernen Vitrinen ihren Charme entfalten können, vergeht viel Zeit. „Mit der Geburt im Schmelzofen ist es noch lange nicht getan, vorher gehen sie noch durch viele Hände“, berichtet Werkstattleiter Martin Schweizer, dessen Vertriebssystem in mehreren Kontinenten verankert ist: natürlich in Japan und in den USA mehr als in Afrika, aber selbst da gibt es zwei Anlaufstellen. Da verwundert es nicht, dass 15 Leute in dem Familienbetrieb arbeiten.

Die Manufaktur lebt von schiefergravierten Formen. Jedes Jahr kommen neue hinzu. Der Bauingenieur Jordi Arau, gestorben im März vergangenen Jahres, hat dem historischen Unternehmen vor 40 Jahren moderne Strukturen gegeben, die überlieferte Technik des Zinngießer-Handwerks jedoch in seiner Ursprungsform erhalten. Es wird noch heute wie zur Gründung im 18. Jahrhundert ausgeübt.

Am Anfang steht die Entwurfszeichnung, die der Graveur auf die Schieferplatte überträgt. „Wer graviert, muss stilsicher Zeichnen“, sagt Martin Schweizer. „Wir sind glücklich dass Sofie Wegele für uns arbeitet. Sie hat in Neugablonz gelernt und ist eine großartige Zeichnerin.“ Das Komplizierte: Zinnfigürchen haben Vorder- und Rückseite, die eins zu eins zusammenpassen müssen, deshalb wird jede Zinnfigur in eine doppelwandigen Schieferform gegossen und in kleinen Serien weiterbearbeitet.

Ist die Form mit dem Gusslöffel befüllt, kann sie schon kurze Zeit später geöffnet werden, weil die Zinnlegierung binnen Sekunden erstarrt. Im Anschluss gehen die silbernen Rohlinge zum Versäubern. Dabei werden überflüssige Verbindungsstege oder Ösen entfernt. Nachdem sie entgratet worden sind, werden sie poliert. Jetzt sind Frauen aus Dießen gefragt, die in Heimarbeit in individueller Handbemalung den Figuren eine Seele einhauchen. Am Ende gleicht keine dem anderen.

Der Beruf des Zinngießers wird nicht mehr gelehrt, weil es so gut wie keine Zinngießereien für Klein- und Flachzinn mehr gibt. Wer Zinngießer werden möchte, muss mit den Glockengießern in die Berufsschule gehen. Ansonsten lernt man es, indem „man den Älteren auf die Finger schaut“, erklärt Schweizer.

Die Kundern der Zinnmanufaktur sind Sammler, Freunde alter Handwerkskünste und Liebhaber bairischer Lebenskultur und Bräuche, die in vielfältigen Formen dargestellt sind. Dazu gehören auch Devotionalien und Beispiele aus dem christlichen Leben, wie das wunderbare Dießener Christkind. Feste im Jahreslauf, wie auch das Leben am Ammersee stehen immer wieder Modell für neue Zinnfiguren. In der Darstellung überlieferter Berufe und Traditionen wird das Leben der Vorfahren auf liebenswerte Weise festgehalten.

In dieser Saison wurde zu Weihnachten ein Jahresengel mit Reh und Häschen aufgelegt. Neu ist auch ein Nikolaus, der an einem Küchenherd kocht. Wer in Dießen seinen Christbaum mit Zinnfiguren dekoriert, kam in dieser  Weihnachtssaison um einen Neuzugang nicht herum: ein mit viel Zierrat aufgezäumtes Lama. Wer ihm einmal in die Augen geschaut hat, möchte es sofort mitnehmen.                                                            Beate Bentele

Information

Zinnmanufaktur Wilhelm Schweizer, Telefon 08807/5072, Internet: www.zinnfiguren.de. Ganz in der Nähe von Wilhelm Schweizer ist die Zinngießerei des Familienzweigs Babette Schweizer mit einem anderen, vor allem historischen Sortiment, Telefon: 08807/350, Internet: www.schweizerzinnde.