Christoph Becker

Ablösung von Staatsleistungen an die Kirchen?

Das Thema „Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen“ beschäftigt schon seit vielen Jahren Politiker der Bundesrepublik, oft verknüpft mit der Behauptung, die Kirchen würden sich bereichern. Ein Gesetzentwurf von FDP, Linken und Grünen, der vor kurzem im Bundestag eingebracht worden war, fand keine Mehrheit. Nun wird das Thema wohl nach der Bundestagswahl erneut auf der Tagesordnung stehen. In einem Grundsatzbeitrag, den die Katholische SonntagsZeitung/Neue Bildpost dokumentiert, erläutert Professor Christoph Becker den komplizierten Sachverhalt und die historischen Hintergründe. Becker, engagierter Katholik, Pastoralratsvorsitzender und Leitender Komtur bei den Augsburger Rittern vom Heiligen Grab, ist Professor für Bürgerliches Recht, Zivilverfahrensrecht, Römisches Recht und Europäische Rechtsgeschichte an der Universität Augsburg.

 

1. Nach der französischen Revolution: Kriege in Europa und Säkularisation

Die Friedensverträge, welche Frankreich im Jahre 1795 zu Basel mit Preußen, dann 1797 in Campo Formio mit Österreich und schließlich 1801 in Lunéville mit dem Heiligen Römischen Reich schloss, machten aus den von französischen Truppen besetzten linksrheinischen Teilen Deutschlands französisches Staatsgebiet. Eine außerordentliche Versammlung von Vertretern der im Heiligen Römischen Reich verbundenen deutschen Herrschaften entschied im Februar 1803 mit dem sogenannten Reichsdeputationshauptschluss, wie die deutschen Territorialherrschaften für ihre Verluste zu entschädigen seien: Alle kirchlichen Herrschaften waren aufzulösen und auf die weltlichen Herrschaften zu verteilen. Kirchliche Besitzungen wurden verstaatlicht oder zugunsten der Staatskassen veräußert; die erlösten Gelder flossen in finanziellen Ausgleich erlittener Verluste. Diesen Vorgang nannte der Hauptschluss Säkularisation. Der Begriff leitet sich vom lateinischen Wort saeculum ab, was soviel wie Zeitraum (auch speziell Jahrhundert, Menschenalter, Generation) bedeutet. Säkularisieren heißt demnach, in zeitliche Bestimmung überführen; und das meint nichts anderes als Übertragen von geistlicher in weltliche Herrschaft.

 

2. Ein Provisorium im dritten Jahrhundert: Laufender Ersatz für entzogene Erträge

Zugleich mit der Säkularisation sah der Hauptschluss laufende Zahlungen an die auf ihre diözesanen Strukturen reduzierten Kirchen vor, um deren Fortexistenz nach Fortnahme ihrer Einkünftequellen zu sichern, Lebensunterhalt für die Amtsträger und Bedienten inbegriffen. Eine Entschädigung für den Entzug der Vermögenswerte an sich empfingen die Kirchen hingegen nicht. Man hätte in vielen Fällen, namentlich bei der Aufhebung von Klöstern, auch gar nicht sagen können, wer die Entschädigung empfangen sollte, weil die bisherigen Vermögensträger mit ihrer Auflösung zu existieren aufhörten. In den von Frankreich annektierten linksrheinischen Gebieten konnte der Hauptschluss nicht in Kraft treten. Das heißt jedoch nicht, dass das dort liegende Kirchenvermögen unangetastet geblieben wäre. Vielmehr zog der französische Staat ebenfalls die kirchlichen Vermögen ein.

Die vom Staat geschuldeten Zahlungen erfuhren im Laufe zweier seitdem verstrichener Jahrhunderte mancherlei Neubestimmung. Der Schuldner Staat wechselte wiederholt seine Identität; aus den Territorien des im Jahre 1806 endenden Heiligen Römischen Reiches wurden im Jahre 1806 (zum Teil) die Staaten des Rheinbundes, 1815 mit wechselnden Gebieten die Staaten des Deutschen Bundes, 1848 kurzfristig eines Deutschen Reichs, im Jahre 1867 des Norddeutschen Bundes, dann 1871 die Bundesstaaten des Deutschen Reichs, 1919 die Länder des Deutschen Reichs und 1949 die Länder der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Als in der Deutschen Demokratischen Republik im Jahre 1952 die Länder aufgelöst wurden, übernahm der Gesamtstaat die Pflichten, erfüllte sie freilich unzulänglich; mit der Wiedervereinigung 1990 entstanden die Länder wieder. Die Kirchen gliederten sich ebenfalls fortwährend neu. Bei jedem Wechsel auf Gläubiger- oder Schuldnerseite trat der Nachfolger in das Leistungsverhältnis ein. Bis in die Gegenwart blieb es dabei, dass die staatlichen Leistungen an die Kirchen lediglich als Ersatz für fortgefallene Erträge aufzufassen sind. Man kann sie mit einer Pachtzahlung vergleichen: Der Staat zieht die Erträge aus dem entzogenen Gut und leistet den Kirchen eine Nutzungsvergütung. Zu keiner Zeit waren die Zahlungen Ausgleich für den Entzug der Vermögenssubstanz. Lediglich in (nicht wenigen) Einzelfallabsprachen zwischen dem Staat und einer Teilkirche wurden staatliche Zahlungen für bestimmte Zwecke mit einem ausgehandelten Ablösebetrag bereits beendet.

 

3. Wie den staatlichen Einzug der Güter entschädigen?

Zeiten unbeachteter Routine im Verwaltungsvollzug der Staatleistungen wechseln seit jeher mit lebhaften Erörterungen, ob man nicht die Entschädigung abschließend regeln solle. Die bemerkenswerte Verstetigung des Provisoriums fand als unerwünscht sogar in Verfassungen Deutschlands Eingang. Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (sogenannte Weimarer Reichsverfassung, verkündet im Reichs-Gesetzblatt 1919, ab Seite 1383) ordnete in Artikel 138 Absatz 1 an: Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (verkündet im Bundesgesetzblatt 1949, ab Seite 1) übernahm in seinem Artikel 140 diesen Verfassungsauftrag. Er zielt seither auf ein Grundsätzegesetz des Bundes.

Die eigentlich nicht für Jahrhunderte oder gar für alle Zukunft gedachten Leistungen belasten mit ihren komplizierten Mechanismen sowohl die Personalhaushalte der Kirchen als auch diejenigen des Staates, was die staatlichen Rechnungshöfe aufmerksam registrieren. Die Abhängigkeit von laufenden Staatsleistungen widerspricht auch dem Ideal einer autonom handelnden Kirche. Die Staaten und die Kirchen haben ein grundsätzlich gemeinsames Interesse an der Beendigung dieser Handhabung. Doch gelang bisher keine Verständigung auf eine beide Seiten befriedigende Art und Weise der Entschädigung. Verjährt sind die Entschädigungsansprüche nicht, da der Staat sie fortlaufend mit seinen vorläufigen Leistungen anerkannte.

 

4. Neuer Diskussionsanstoß im Deutschen Bundestag: einen Jahresausgleich mit 18,6 multiplizieren

In rarer Einmütigkeit unternahmen im Mai 2020 die Fraktionen der Freien Demokraten, der Linken und der Grünen im Deutschen Bundestag einen neuen Diskussionsanstoß. Sie legten ihren gemeinsamen Entwurf eines Grundsätzegesetzes zur Ablösung der Staatsleistungen vor (Drucksache 19/19273 vom 15.5.2020). Die Vorlage beziffert die jährlichen Staatsleistungen an die Kirchen mit rund 548 Millionen Euro. Gemeint sind die Leistungen der Länder, nicht Leistungen anderer öffentlicher Institutionen – wie zum Beispiel Ortskrankenkassen, die die Behandlung ihrer Versicherten in kirchlichen Krankenhäusern vergüten. Und auch bei Leistungen der Länder muss man unterscheiden. Nicht mit den abzulösenden Staatsleistungen gemeint sind Erstattungen des Aufwandes kirchlicher Schulen als Förderung privater Ersatzschulen (beispielsweise nach Artikel 29 des Bayerischen Schulfinanzierungsgesetzes) oder Investitionsförderungen für Krankenhäuser (zum Beispiel gemäß Artikeln 9 und folgende des Bayerischen Krankenhausgesetzes) oder Unterstützungen im Bereich der Denkmalpflege (Artikel 22 bayerisches Denkmalschutzgesetz).

Der Gesetzesentwurf schlägt vor, als Entschädigungssumme als Vervielfältigung des aktuellen Jahresbetrages der Staatsleistungen mit dem Faktor 18,6 festzusetzen. Er lehnt sich ausdrücklich an das Bewertungsgesetz des Bundes an. Das Bewertungsgesetz ist freilich nicht für diesen Zweck geschrieben, sondern dient der Bemessung von Abgaben an den Staat (§ 1). Gemäß § 13 Absatz 2 des Bewertungsgesetzes sind immerwährende Nutzungen oder Leistungen mit dem 18,6-fachen des Jahreswertes zu veranschlagen.

  

5. Tauglichkeit einer Ertragswertrechnung ohne Kenntnis der Ertragswerte und für renditeloses Kulturgut?

Eine solche Lösung besticht durch ihre verhältnismäßig leichte Ausführbarkeit. Aber man darf bezweifeln, ob sie tauglich ist. Einen Jahresertrag mit einem gewissen Faktor zu vervielfältigen, ist gängige Praxis sowohl im Steuerrecht als auch auf dem Markt, der den Preis eines Gutes zu bilden versucht. Das setzt freilich zweierlei voraus: erstens, dass ein Gut seiner Bestimmung gemäß wirtschaftlichen Ertrag haben kann; und zweitens, dass der gemessene Ertrag nach den am Markt herrschenden Verhältnissen entsteht. Beides scheint im Falle des enteigneten Kirchenvermögens nicht hinreichend gesichert. Ein erheblicher Teil der nach dem Reichsdeputationshauptschluss (oder auf dem linken Rheinufer durch Frankreich) eingezogenen Güter hatte zwar hohen ideellen Wert, vielleicht auch einen materiellen Wert, aber keinen Ertragswert (Altargerätschaften, Kunstwerke, Bibliotheken) oder war sogar materiell nahezu wertlos (Archivalien, Akten; aber auch manche Kunstwerke, Handschriften und Bücher). Was nicht in staatliche Archive, Museen oder Bibliotheken  und wanderte, wurde als Rohstoff (Altpapier) verschleudert oder verfeuert, eingeschmolzen oder zerlegt. Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts definierten und später angepassten Staatsleistungen waren und sind weder am Ertragswert des eingezogenen Vermögens (kirchliche Träger hatten fürwahr gewaltige Massen ertragreichen Vermögens gehabt) noch am Substanzwert oder gar am immateriellen Wert des entzogenen Gutes ausgerichtet. Sie waren und sind bestenfalls bedarfsorientiert zugeschnitten - namentlich an den Baukosten für Gotteshäuser und zugehörige Bauten (Pfarrhaus) sowie an angemessener Besoldung der Bischöfe.

Die Kirchen in all ihren Teilen mögen zu Beginn des 19. Jahrhundert in dem Sinne ein Übermaß an Vermögen innegehabt haben, als sie für ihre Seelsorge benötigten und einsetzten. Vielleicht übertraf ihr Vermögen zudem das, was sie für karitative Zwecke nicht nur benötigten, sondern auch wirklich einsetzten. Sicherlich war ihr Vermögen nicht so groß, dass die Kirchen es nicht vollständig für diese Aufgaben hätten verwenden können. Papst Franziskus fordert seit seiner Wahl im März 2013 fortwährend eine arme Kirche. Er meint keine mittellose Kirche. Seine Forderung zielt auf sinnvollen Einsatz der Mittel für die seelsorglichen und karitativen Ziele der Kirche im Gegensatz zu bloßer Anhäufung. Eine solche Forderung (die der Papst nur für die römisch-katholische Kirche aufzustellen vermag) zu bedenken und zu erfüllen ist nun allerdings eine innere Angelegenheit der Kirchen. Dem Staat steht nicht die Bestimmung zu, was eine Höchstausstattung der Kirchen für die Erfüllung ihrer nur durch sie selbst definierbaren Aufgaben ist. Deswegen darf man nicht annehmen, die Auflösung kirchlicher Einrichtungen (namentlich der Klöster) und der Einzug kirchlicher Güter habe daraus seine Legitimation bezogen, dass die Kirche fortan auf eine notwendige Grundausstattung reduziert wären. Dann aber muss das sämtliche den Kirchen entzogene Gut als Bemessungsgrundlage für die Ablösung der Staatsleistung dienen, nicht die nur in losem Zusammenhang mit dem Wert der enteigneten Güter stehenden vorläufigen Staatsleistungen an sich.

 

6. Wie das entzogene Gut identifizieren?

Im 21. Jahrhundert, mehr als 200 Jahre nach der Enteignung, erscheint es ausgeschlossen, die entzogenen Werte noch einigermaßen vollständig zu bestimmen. Bereits der von der Weimarer Verfassung vor hundert Jahren erteilte Auftrag war unerfüllbar. Kein Zeitzeuge lebte mehr, und die schriftlichen Quellen waren schon damals unvollständig. Bereits im Jahr 1919 hatten unzählige Gebietsänderungen auf Seiten des Staates wie auf Seiten der Kirchen die räumliche Zuordnung des früheren Vermögens verdunkelt. Nach weiteren hundert Jahren sind die Schwierigkeiten noch weniger überwindlich. Abgesehen davon erscheint es auch unzweckmäßig, dass der Bundesstaat die Entschädigungsgrundsätze bestimmen soll, obwohl er selbst keinen unmittelbaren Einblick in die Vielfalt der Sachlagen hat, die man berücksichtigen müsste. Die Sachkunde liegt bei den Ländern, welche seit jeher die Leistungen verwalteten und erfüllten (von vorübergehender Zuständigkeit des Zentralstaates in der Deutschen Demokratischen Republik abgesehen).

 

7. Verstärkte Inanspruchnahme staatlicher Finanzierungspflichten an anderer Stelle?

Der Staat ist auch gut zu erwägen beraten, ob er nicht die Ablösung seiner zu Anfang des 19. Jahrhunderts eingegangenen Pflichten gegen künftige vermehrte kirchliche Inspruchnahme der sonstigen Förderungen einwechselt, welche er allen Trägern gewisser Einrichtungen gewährt. Der Druck auf die staatlichen Leistungen zur Denkmalpflege, Krankenhausfinanzierung und Schulbetrieb könnte nach Ablösung wachsen. Und die in den Kirchen für Verhandlungen über eine Ablösung Verantwortlichen werden sorgsam darauf bedacht sein müssen, nicht übereilt einer Erledigung zuzustimmen, die möglicherweise weit hinter dem Wert der eingezogenen Güter zurückbleibt. Was der Staat vor 200 Jahren an sich nahm, hatten die Vorfahren der heutigen Kirchenangehörigen unter großen Anstrengungen geschaffen. Die Bildung des kirchlichen Reichtums war oft mit schweren Entbehrungen der Menschen verbunden. Viele Wege des Vermögenszuflusses waren schon den Zeitgenossen fragwürdig und befremden uns heutzutage in der Rückschau noch mehr. Die Nachfahren sollten sich das Vermögen nicht ein zweites Mal mit mangelhaft erhobener Bemessungsgrundlage für eine Entschädigung fortnehmen lassen.

15.05.2021 - Historisches , Kirche