Hirtenwort von Bischof Bertram Meier zur Fastenzeit

Mit Jesus an den Start gehen

In seinem Hirtenwort zur Fastenzeit stellt Bischof Bertram Meier eine Frage, die eigentlich am Anfang eines jeden christlichen Tuns und Lebens stehen sollte: die Gottesfrage. Der Bischof lädt die Gläubigen ein, sich – bildlich gesprochen – gemeinsam auf den Weg in die Wüste zu machen. Dort sollen sie sich nach dem Vorbild Christi, auch und gerade angesichts der Corona-Pandemie, neu auf Gott und seine Führung ausrichten.1

Liebe Schwestern und Brüder!

Der Ausbruch der Corona-Pandemie liegt nun schon ein Jahr zurück. Von einem Tag auf den anderen mussten wir uns an völlig neue Umstände gewöhnen; das Virus zwang uns zu einschneidenden Veränderungen. Vieles hatten wir anders geplant. Veranstaltungen, die im Kalender standen, mussten abgesagt oder verschoben werden. Corona ist buchstäblich dazwischengekommen. Doch die Frage, die mich als Euer Bischof sehr bewegt und die uns alle auf dem Weg aus der Krise heraus beschäftigen sollte, greift tiefer: Kommt bei all unserem Organisieren und Manövrieren, beim Ausprobieren und auch Kritisieren Jesus noch dazwischen? 

Mit diesem Brief, der eine Art Wegweiser durch die nächsten Wochen sein soll, lade ich Euch ein, mit Jesus von Nazareth an den Start zu gehen. Bevor er seine öffentliche Mission beginnt, zieht er sich in die Wüste zurück. Dort sucht Jesus nach Gott, seinem Vater. Die weg­lose, lebensfeindliche Wüste stellt die Gottesfrage. 

Stammeln und Schweigen

Sie sollte auch bei uns ganz oben stehen. An welchen Gott glaubst Du eigentlich? Wen meinst Du, wenn Du von Gott redest? Tatsache ist: Es gibt auch Atheismus in der Kirche. Ich beobachte, dass wir zwar viel über Gott sprechen, aber nur wenig mit ihm und für ihn leben. Strenggenommen können wir gar nicht „über“ ihn reden. Allenfalls dürfen wir zu ihm rufen, stammelnd vor ihm knien, auch Schweigen ist erlaubt. In der Gottesfrage geht es nicht um blutleere Spekulation; es geht um uns. Es ist für die Kirche(n) höchste Zeit, um des Menschen willen wieder mehr Gott ins Spiel zu bringen. Papst Franziskus wird nicht müde, uns daran zu erinnern. Neben Gott, seinem Hauptthema, spart er den Teufel, der alles durcheinander­bringt, nicht aus. Wir werden gefragt, wofür und wogegen wir sind. 

In diese Entscheidung stellt uns auch das heutige Evangelium2. Es führt zu Gott; zugleich entlarvt es die Götzen, die wir oft zu Gott erklären. Die Kirche sieht heute nur die kurze Fassung des Markus vor, ich lege meinen Überlegungen die längere Version des Lukas zugrunde. Dort lesen wir: „Jesus wurde vom Geist in der Wüste umhergeführt.“

Wüste: Krise und Gnade

Das heißt, der Heilige Geist treibt Jesus in Entscheidungsexerzitien. Wüstenzeit ist Krisenzeit und zugleich Gnadenzeit. In der Wüste scheiden sich die Geister. Es zeigt sich, wer Gott für uns ist und wo die Götzen stehen. Die Versuchung, in die Jesus geführt wurde und vor die uns die Corona-Herausforderung stellt, entzündet sich an drei Lebensfragen: 

Wovon leben wir? „Befiehl diesem Stein, zu Brot zu werden.“ Das ist der Ratschlag des Teufels. Die Versuchung ist groß, diesem Ansinnen nachzugeben. Wenn wir alles selbst machen wollen – unseren Glauben, die Kirche, den Lebenssinn – dann schaffen wir einen Götzen: ein Machwerk unserer Hände und Hirne. Diese Versuchung hat viele Namen: Produktivität, Geld, Gier und Geiz, die gesicherte Position, Arbeitsleistung, Wohnung und Statussymbole. 

Die Pandemie zeigt uns Grenzen auf. Vieles ist seit ihrem Ausbruch ins Wanken geraten, sicher Geglaubtes in Frage gestellt. Betriebe, Geschäfte und Restaurants kämpfen um ihre Existenz. Kunst und Kultur bangen ums Überleben. Manche sind versucht, im Hinblick auf diese Bereiche zu fragen: „Geht es vielleicht auch ohne …?“ Weit gefehlt! Jesus sagt: „Nicht vom Brot allein lebt der Mensch.“ Das Materielle allein macht uns nicht zu Menschen. Wir brauchen Beziehung, Freundschaft, gute Worte füreinander, das Wort Gottes, gemeinsame Gottesdienste. Daher habe ich mir für mein privates Vaterunser eine kleine Variante ausgedacht. Anstelle der Bitte ums tägliche Brot bete ich immer wieder auch ums tägliche Wort: „Unser tägliches Wort gib uns heute!“ Dies empfehle ich zur Nachahmung. 

Vor wem gehen wir in die Knie? Der Versucher führt Jesus auf einen Berg und zeigt ihm alle Reiche der Erde. Dann flüstert er ihm ein: „All die Macht und Herrlichkeit dieser Reiche will ich dir geben, wenn du mich anbetest.“ So stellt sich die Frage: Welchen Autoritäten und Instanzen beuge ich mich? Vor wem knicke ich ein? Vor den Herrschaften der Welt, vor den hochwürdigen Herren der Kirche – oder vor Gott? 

Der Jesuit Teilhard de Chardin (1881 bis 1955) schrieb: „Der Tag ist nicht mehr fern, an dem die Menschheit wählen kann zwischen Selbstmord und Anbetung.“3 Diese Alternative wird heute zum Ernstfall. Die Schöpfung, unser „gemeinsames Haus“, steht auf der Kippe. Wir können davon ausgehen, dass durch gewissenlose Ausbeutung der Schöpfung Klimakatastrophen und Pandemien häufiger werden. „Die Erde schreit auf“4, klagt Papst Franziskus. „Wenn wir weiter die Schöpfung zerstören, wird die Schöpfung einst uns zerstören!“5 

Jesus hat ein Gegenmittel: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen.“ Anbetung bedeutet mehr als ein Ritual vor dem Allerheiligsten; Anbetung ist Haltung und Lebensform: Staunen und Ehrfurcht. Wer so lebt, verweist auf die Befreiung und Erlösung, die allein Jesus Christus uns ein für alle Mal am Kreuz geschenkt hat. Er fördert das „Leben in Fülle“ (Joh 10,10). 

Wie steht es um unser Gottvertrauen? „Stürz dich oben vom Tempel herab“, will der Teufel Jesus einreden, und er hat gleich eine biblische Begründung parat: „Seinen Engeln befiehlt er, dich zu behüten, und sie werden dich auf Händen tragen.“ Der Sohn Gottes lehnt ab. Gott lässt sich nicht als Beweismittel missbrauchen. Wir können keine Lebensversicherung mit ihm abschließen. Eine Heilsgarantie wäre Unglaube oder Aberglaube. 

Satanische Versuchung

Wer es mit Gott „mal so“ versuchen will, versucht ihn. Genau das will der Teufel. Er gibt sich ganz fromm und zeigt sich sogar bibelfest. Er führt Gottes Wort im Mund. Doch er verbiegt letztlich dessen Sinn. Man kann die Botschaft Jesu auf diabolische Weise verdrehen, ohne den Wortlaut zu ändern. Das ist eine satanische Versuchung, die es auch bei uns in der Kirche gibt. Einige Beispiele seien genannt: Die Spannung zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit wird einseitig aufgelöst, die Bibel wird für die eigenen Interessen verzweckt, die Deutungshoheit über die Heilige Schrift wird für sich beansprucht. 

Halten wir Gewissenserforschung! Auch wir sind nicht vor der Versuchung gefeit zu fragen: Was habe ich von Gott? Wofür ist er gut? Was nützt er mir? Bei manchen Diskussionen in Kirchenkreisen gewinne ich den Eindruck, dass es weniger um Gott geht als vielmehr um uns selbst – nach dem Motto: Jeder ist sich selbst der/die Nächste. Aber: Gott ist keine Sache, ER ist Person. Glauben ist nicht nur die Zustimmung zu Wahrheiten, die man in Dogmen und Moral­vorschriften gießen kann. Vertrauen zu IHM ist gefragt, auch wenn es mitunter schwerfällt, uns Gottes Führung zu fügen. In den Sprachen der Bibel sind „glauben“ und „vertrauen“ ein und dasselbe Wort. Das müssen wir uns neu bewusstmachen. 

Beginnen wir diese österliche Bußzeit mit vier Fragen, die ich fürs Nachdenken und für den Austausch in unseren Gruppen und Gremien, in den Familien und mit Freunden empfehle. Schon seit Monaten leben wir mit dem Virus. Spüren wir hin, wie sich Corona auf unser kirchliches Leben auswirkt.

• Worauf mussten wir verzichten – und es geht uns schmerzlich ab?

• Was haben wir weggelassen – ohne dass es uns fehlt?

• Welche neuen Schritte möchten wir setzen, um die Zeit nach Corona zu gestalten?

• Welche Vorsätze fasse ich für mich persönlich, um mein geistliches Leben zu erneuern? 

Wagen wir die Wüste! Es ist Prüfungszeit. Gehen wir gemeinsam voran – im Namen des Herrn! 

Dazu segne Euch der allmächtige und treue Gott, der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.

+ Bertram, Bischof von Augsburg

1Inspirierende Gedanken gewann ich von Franz Kamphaus, Zwischen Gott und Götzen, in: Der Stein kam ins Rollen. Worte, die zum Glauben reizen, Freiburg-Basel-Wien 1986, S. 149-155.

2 Mk 1,12-15; vgl. Lk 4,1-13. 

3 Vgl. Peter Spönlein, Dem Leben dienen: Die neue Menschheitskultur, Waldkirch 2015..

4 Papst Franziskus, Enzyklika Laudato sí (2015), Untertitel und Nr. 2.

5 Vgl. meine Katechese beim Cantate Domino 1. Advent 2020 im Dom zu Augsburg, in: Der Schöpfer wird Mensch (Augsburger Schriftenreihe 65) S. 11 im Rückgriff auf Papst Franziskus, Generalaudienz am 21.5.2014.