Predigt von Bertram Meier, ernannter Bischof und Apostolischer Administrator, am Weißen Sonntag, 19. April 2020

Christus ist nicht drinnen; er ist hinausgegangen zu den Suchenden

Noch zu Beginn der Fastenzeit haben viele von uns gedacht: Diese Pandemie verursacht zwar einen kurzfristigen Shutdown, eine Störung der gewöhnlichen Abläufe in der Gesellschaft; aber wenn wir das überstanden haben, geht alles so weiter wie vorher. Dann kehren wir einfach wieder zum alten Modus zurück. Doch es ist anders gekommen. Auch wenn wir jetzt kleine Schritte wagen dürfen, um uns wieder für wirtschaftliche und soziale Kontakte zu öffnen, wird die Welt nach Corona nicht mehr dieselbe sein wie zuvor. Das globale Phänomen der Corona-Pandemie ist für mich – biblisch gesprochen - ein Zeichen der Zeit. Auch in der Kirche wird es nicht mehr einfach so weitergehen. Ein „einfach weiter so“ wird und darf es nicht geben. 

In dieser von Corona dominierten Zeit fühlen wir uns einer Gruppe von Menschen besonders nahe: den Suchenden. Die einen suchen nach dem befreienden Impfstoff, die anderen suchen nach verlässlichen Beziehungen, wieder andere suchen nach Stabilität in ihrer wirtschaftlichen Existenz, die auf der Kippe steht. Suchen: Genau das ist der wunde Punkt bei Thomas: Glauben möchte er, aber gleichzeitig sehen. In Thomas begegnen wir einem Suchenden. Man hat oft gesagt, Thomas sei eine Vorwegnahme des aufgeklärten Menschen der Neuzeit. Ob uns am Beispiel des Thomas wirklich nur die Kapitulation eines Skeptikers vorgeführt werden soll? Ich meine, es geht um viel mehr. Der feierliche Schlusssatz drückt das eigentliche Anliegen aus: „Selig, die nicht sehen und doch glauben.“ Damit setzt der Auferstandene ein Wundmal seinem Denker Thomas. Wen preist Jesus selig?

Den Schlüssel für eine Antwort liefert uns ein Blick in die Zeit, als Johannes sein Evangelium verfasste. Wir schreiben das Jahr 90 nach Christus, also etwa 60 Jahre nach Ostern. Das Christentum hatte sich schon weit ausgebreitet. Rund um das Mittelmeer gab es christliche Gemeinden mit Menschen, die das Osterevangelium kannten, aber den Auferstandenen nicht mehr persönlich erfahren hatten. Genau dies ist der wunde Punkt, der den Christen am Ende des 1. Jahrhunderts zu schaffen machte: Kan das, was Jesus gelehrt und gelebt hat, kann der Glaube, den er seinen Jüngern eingepflanzt hat, weitergehen auch bei Menschen, die Jesus nie mit eigenen Augen gesehen, nie mit eigenen Ohren gehört, nie mit eigenen Händen berührt hatten? Oder musste man damit rechnen, dass die „Sache Jesu“ nach zwei, drei Generationen abbröckeln würde, weil die Gleichgültigkeit und das Vergessen stärker waren als die Kraft des Anfangs? 

Die Christen an der ersten Jahrhundertwende hatten also ein Problem. Und dieses Problem wird in der Gestalt des Thomas gleichsam verdichtet. Wir wissen, dass er in der entscheidenden Stunde nicht dabei ist, als die Kirche aus der Taufe gehoben wird. Er ist nicht dabei, als Jesus seinen Jünger schalom, den Frieden, zuspricht. Er ist nicht dabei, als der Auferstandene ihnen den Heiligen Geist schenkt und damit das österliche Sakrament der Vergebung, von dem wir leben, um neu anzufangen. Thomas steht für die Christen, die den Anfang, die Gnade der ersten Stunde, nicht mehr erlebt haben. Ist Thomas deshalb benachteiligt? Die Antwort des Johannes lautet: Nein. Er ist nicht hinten dran. Denn er hat die Versammlung der Zeugen, die Woche für Woche zusammenkommt: eine Schatztruhe geistlicher Erfahrung, die Thomas geschenkt wird. Eigentlich hätte ihm das genügen müssen. Aber er ist nicht zufrieden damit. So geht die Geschichte weiter. Er bekommt tatsächlich die Gelegenheit, den Herrn persönlich zu sehen. Im Text heißt es: „Acht Tage darauf waren die Jünger wieder versammelt, und Thomas war dabei.“

Schön, dass auch Sie heute wieder dabei sind. Momentan ist das nur virtuell möglich, am Computer oder übers Fernsehen. Deshalb freue ich mich schon jetzt, wenn unsere Versammlungen als Kirche wieder real, wirklich, stattfinden können. Viele zerbrechen sich derzeit den Kopf, wie das – hoffentlich bald – möglich sein wird. Nicht nur Kirchenleute, sondern auch Verantwortliche in der Politik, von denen uns viele sehr gewogen sind und alles tun, um Türen zu öffnen – immer den Schutz der Gesundheit unserer Mitbürgerinnen und –bürger im Blick. Ihnen ein herzliches Vergelt’s Gott!

Gemeinschaft im Glauben – das wird auch in Zukunft immer wichtiger. Denn die Zahl der Suchenden wächst. Die Suchenden sind nicht nur draußen in der Welt. Die Suchenden sind drinnen, mitten unter uns, in der Kirche. Auch bei den Beheimateten, die selbstverständlich in der Kirche sind und mit ihr leben, gibt es viele Suchende – gerade jetzt. Für sie ist der Glaube „kein ererbtes Eigentum“, sondern eher ein Weg, ein Gehen mit dem Herrn mit allen Gipfeln und Tälern. Da müssen wir als Kirche mitgehen – im wahrsten Sinn des Wortes. Da dürfen wir nicht unsere Inneneinrichtung pflegen oder gar Nabelschau betreiben. Das hilft keinem.

Die Suchenden von heute – ob drinnen oder draußen – brauchen eine Kirche, die begleitet: eine Kirche, die nicht selbstsicher die eigenen Interessen und Privilegien pflegt, sondern sich selbst als Suchgemeinschaft versteht. Thomas hat sie gefunden im Apostelkreis. Er hat keine Ich-AG gegründet, um den Osterglauben anzunehmen. Ostern hat sich ihm erschlossen in einer GmbH: in der apostolischenGemeinschaftmitbegründeterHoffnung. Viele Ich-AG’s müssen Insolvenz anmelden, nicht nur in der Wirtschaft, auch im Glauben. Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir – auch in der Kirche – viel zu viele Ich AG’s haben. Menschen, die nur sich sehen, ja die sich mitunter mehr selbst zelebrieren als den gekreuzigten und auferstandenen Herrn.

So weitet die Gestalt des Thomas unseren Blick auf das Problem unserer Zukunft. Es geht um die Weitergabe des Glaubens, um unsere Mission. „Selig, die nicht sehen und doch glauben“, will sagen: „Selig sind die, die zwar nicht in der ersten Stunde mit dabei waren, die aber den Zeugen der Auferstehung Glauben schenken.“

Wo finde ich heute solche Zeugen? Wo finde ich Zeugen, die miteinander aus der Auferstehung Jesu Christi leben und sich in seinem Geist versammeln? Eine Kennkarte dafür ist die Gemeinde, wie sie die Apostelgeschichte beschreibt (vgl. Apg 2,43-47; 4,32-35). Die ihr angehören, sind verbunden wie die Glieder eines Leibes. Sie teilen das Brot miteinander und leben zusammen in Freude und Reinheit des Herzens. Sie sind ein Herz und eine Seele. Dieses Miteinander ist der stärkste Osterbeweis, den es geben kann. Und genau da kommen wir wieder zum „Sehen“ zurück. Gerade die Menschen von heute wollen etwas „sehen“ von unserem Glauben. Sie wollen „sehen“, wo wir das auch leben, was wir lehren. Sie wollen „sehen“, wie es bestellt ist um das große Wort der Liebe, das wir Kirchenleute so gern im Mund führen. Sie wollen „sehen“, ob wir glaubwürdig sind. Was „sehen“ die Menschen bei uns?

Wir sind gut beraten, unsere Suche nach dem Glauben an Thomas zu orientieren: Thomas ist seinen Weg nicht allein gegangen. Er wollte es nicht „solo“ machen. So hat er seine Gemeinschaft nicht abgeschrieben noch hat er sich innerlich von ihr distanziert, er hat auch keine „Thomas-Ich-AG“ gegründet, sondern Halt gesucht in der „kirchlichen GmbH“, der Gemeinschaft mit begründeter Hoffnung. Weil er seine Fragen und Zweifel in die Gemeinschaft gebracht hat und ihnen dort auf den Grund gegangen ist, hat sein Osterglaube einen Grund gefunden: den Grund, der in den Wunden liegt.

Einen Tag vor seiner Wahl zum Papst hat der damalige Kardinal Bergoglio eine Aussage aus der Apokalypse aufgegriffen: Christus steht an der Tür und klopft. Und er fügte hinzu: „Heute klopft jedoch Christus aus dem Inneren der Kirche an und will hinaus gehen. Vielleicht hat er das gerade getan.“ Immer wieder hat Jesus in der Geschichte im Inneren der Kirche angeklopft. Haben wir seine Klopfzeichen gehört? Vielleicht ist Jesus deshalb zu Fernstehenden hinausgegangen – auch aus manchen Räumen der Kirche, die eher an ein Grab erinnern als an einen blühenden Garten.

Machen wir ernst mit Ostern: Das Grab ist wirklich leer. Aber der verwundete Leib Christi bleibt. Der Auferstandene hat dem Thomas seine Wunden gezeigt und sich berühren lassen. Ich wünsche uns - der Kirche heute - den Mut, einander unsere Wunden zu zeigen, unsere offenen Flanken und Schwachstellen. Leben wir Kirche als Suchgemeinschaft! Wir haben die Wahrheit nicht für uns gepachtet. Auch das könnte eine Lehre sein aus Corona, einem Zeichen für diese Zeit. Gerade an diesem Punkt gibt es für uns alle noch viel zu tun. Packen wir’s an!

21.04.2020 - Bistum Augsburg , Gottesdienst