Weihnachtspredigt am 25. 12. 2020 von Bischof Bertram Meier

Menschen sind die Worte, mit denen Gott seine Geschichte erzählt

„Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt,
und wir haben seine Herrlichkeit gesehen.“ (Joh 1,14)
In letzter Zeit haben wir nicht nur Gottes Herrlichkeit gesehen. Wir müssen hinunterschauen in die dunklen Abgründe, in die auch Mitglieder der Kirche verstrickt sind: keine Kirche der Herrlichkeit, sondern der Armseligkeit. Arme Kirche! Die Pandemie verstärkt noch, dass wir Weihnachten heuer nicht so herrlich und prächtig feiern können, wie wir es gewohnt sind. Doch das Fest findet statt - Corona zum Trotz. Wir trotzen der Pandemie und feiern daher trotzig: Denn „das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ Weil wir derzeit auf viele Möglichkeiten verzichten müssen, um uns zu begegnen, wird das Wort umso wichtiger. Fragen stellen sich: Wie teile ich mich mit? Ist mein Wort verlässlich und klar? Mitunter habe ich den Eindruck von Gesprächen, die ich als Bischof führe – und in den vergangenen Monaten habe ich viel mit einzelnen und kleinen Gruppen gesprochen: Die Atmosphäre war gut, an frommen Worten fehlt es uns Kirchenleuten ja in der Regel nicht. Wir sind auf Harmonie ausgelegt. Aber bei den schönen Worten bleiben Zweifel zurück: Lebst Du vielleicht von freundlichen Lügen, weil Dir zur Wahrheit die Liebe fehlt?
Jesus ist Gottes Wort, keine Formel, sondern Person. Er ist Gottes Brief, kein Sammel- oder Kettenbrief, auch keine Petition, in die man sich einträgt. Das Wort wurde auch nicht Parole. Nein: „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ In unserem Umgang mit Wörtern ist die Zeit eingeschrieben. Unser Wortschatz ist ein Barometer für das Klima, in dem wir leben. Es gibt Unwörter, die eine Jury kürt, ebenso wie Lieblingsworte, die wir gern verwenden. Wer sprach vor einem Jahr von der Coronapandemie, dem Wort des Jahres 2020? Wer denkt noch an das Unwort des Jahres 2019

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„Klimahysterie“, eine hochaktuelle Problemanzeige? Papst Franziskus legt mit seinen beiden Enzykliken Laudato sí (2015) und Fratelli tutti (2020) den Finger hartnäckig in diese Wunde, die ähnlich wie Covid 19 global blutet. Ich habe für 2020 ein persönliches Wort des Jahres gewählt: Beziehung. Wir erleben es in dieser Zeit: Begegnungen kann man uns nehmen, Beziehungen nicht – weder zu Gott noch untereinander. Weihnachten ist ein Fest der Beziehung. Wir spüren, wie tief unsere Beziehungen sind, ob sie tragen oder fallen. Gott festigt seine Beziehung zu uns durch sein Wort, das in die Welt kam. Worte spiegeln Wirklichkeit. Sie ergeben ein Mosaik, das ein Jahr zusammenfasst. Hinter den Worten stecken Menschen, die Geschichte schreiben, Menschen, die füreinander Aufgabe, aber auch Gabe und Geschenk bedeuten.

Der Dominikaner Edward Schillebeeckx (1914-2009), ein großer holländischer Theologe des letzten Jahrhunderts und Berater auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil, beginnt ein Buch mit dem Ausspruch eines kleinen Jungen: „Menschen sind die Worte, mit denen Gott seine Geschichte erzählt.“

Wir feiern Weihnachten, den Geburtstag des Menschen Jesus von Nazareth, der sich mit Leib und Seele als Wort Gottes verstanden hat, der seinen Part in der Geschichte ganz ernst genommen hat, um Gott persönlich ins Spiel zu bringen. Das Eine Wort, der Logos, der Fleisch wurde, gibt der Geschichte eine neue Logik, die Logik der Liebe bis zum Kreuz. Zwar ist Jesus das Schlüsselwort, aber nicht das ganze Drama der Geschichte Gottes mit uns Menschen. Das Stück geht weiter. Es ist noch nicht zu Ende gespielt. Wir sind mitten drin.

„Menschen sind die Worte, mit denen Gott seine Geschichte erzählt“. Solange nicht noch mehr Menschen ihren Part in der Geschichte erkennen und ausfüllen, bleibt sie Fragment. Dann erleben wir Momente und Monate, die den Charakter einer Komödie tragen oder sich zu einer furchtbaren Tragödie auswachsen. Wir reden uns die Köpfe heiß auf dem Synodalen Weg, streiten über die Form des Kommunionempfangs – ob auf die Hand oder in den Mund – und vergessen dabei, dass die „Hütte der Kirche“ anderswo brennt. Wie Jesus es vorgemacht

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hat, ist unser Platz bei den Kranken, Sterbenden und Trauernden. Darin liegt die Chance dieser Corona-Zeit. Wir können neu entdecken, worum es wirklich geht: Gott wird Mensch, damit auch die Kirche menschlicher wird. Wir Christen sind gefragt. Wir können die Weihnachtsgeschichte weiterschreiben durch unser Leben. Wenn wir aber in der Flut der Wörter untergehen und nicht dem Wort auf der Spur sind, das Fleisch wurde, dann ist unser Leben ein unverständlicher Lückentext. Gerade jetzt erwarten die Menschen das Wort der Kirchen. Sie wollen uns hören. Die Politiker machen Krisenmanagement, von den Kirchen erhoffen die Menschen mehr: einen Blick über Zeit und Welt hinaus, die Sicht auf einen neuen Himmel und eine neue Erde (Offb 21,1), ein Wort des Lebens. Solange wir da stumm bleiben, solange ist auch Gott sprachlos.

Vielleicht wirkt das kirchliche Leben manchmal so zerfahren und zerrissen, weil wir uns zu wenig auf das Brückenwort besinnen, das Jesus Christus heißt. Jesus Christus ist das Bindewort zwischen Himmel und Erde. Dieses Wort bindet Gott und Mensch neu aneinander. Dieses Wort schafft Verbindlichkeit, indem es sich binden und fesseln, ja sogar festnageln lässt am Kreuz.

„Menschen sind die Worte, mit denen Gott seine Geschichte erzählt.“ Vielleicht klingt Gottes Geschichte manchmal so langweilig und trocken, vielleicht erleben wir die Kirche als unbeweglich und blass, weil Reiz-Worte fehlen: Menschen, die uns zum Glauben reizen und uns durch ihre Glaubwürdigkeit mitreißen. Vielleicht hört sich Gottes Geschichte mit uns manchmal lahm und erfolglos an, vielleicht machen wir deshalb ein so freudloses Gesicht, weil uns noch so viele Stich-Worte fehlen: Menschen, die uns anstacheln und Impulse geben, die uns Stachel sind im Fleisch unserer Tradition und Bequemlichkeit.

Vielleicht hört sich Gottes Geschichte bei uns so zwiespältig und disharmonisch an, weil wir Jesus weder als Schlüssel-Wort noch als Binde-Wort noch als Reiz- Wort oder als Stich-Wort sehen, sondern als Schlag-Wort: Doch Jesus ist keine Schlagwaffe, mit der wir aufeinander eindreschen könnten. Mühen wir uns um Bescheidenheit: Keiner von uns hat ein Monopol auf das Wort. Jesus hat so

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viele Facetten, dass niemand ihn allein ergründen und ausschöpfen kann. Im Namen Jesu sich den rechten Glauben absprechen, einander exkommunizieren, das widerspricht dem Wort, das Fleisch wurde. So sehe ich in Weihnachten 2020 die Einladung, auf kleinliche Wortklaubereien und Schattengefechte zu verzichten und mich auf den Kern zu besinnen, um den es wirklich geht: den Gott Immanuel – einen Gott, der mit uns ist! (Mt 28,20) Corona schafft andere Umstände. Wir merken es: Die Kirche selbst ist in anderen Umständen. Sie trägt das Leben aus. Unter diesen Umständen muss und will sie helfen, dass Christus zur Welt kommen kann - durch uns in allen möglichen Formaten.

„Menschen sind die Worte, mit denen Gott seine Geschichte erzählt.“ Damit berühren wir noch eine Perspektive, die in unsere digitale Zeit hineinspricht: Jesus ist unser Pass-Wort. Es ist wie beim Computer. Wenn wir ihn öffnen und in seine Dateien Einblick nehmen wollen, brauchen wir ein Passwort. Was für die virtuelle Welt gilt, entspricht dem realen Leben: Nicht der Computer setzt das Passwort fest, sondern das Passwort erschließt den Zugang in den Computer. So wird die Kirche nicht Christus der Welt anpassen, sondern umgekehrt: Sie bringt sich in die Welt ein mit dem Passwort, das Jesus Christus heißt. Romano Guardini brachte dies auf den Punkt, noch ehe er überhaupt an einen Computer denken konnte (Berichte über mein Leben, Patmos Verlag, Düsseldorf 1984, S. 20):

Heute Nacht, aber es war wohl morgens, wenn die Träume kommen,
dann kam auch zu mir einer.
Was darin geschah, weiß ich nicht mehr, aber es wurde etwas gesagt,

ob zu mir oder von mir selbst,
auch das weiß ich nicht mehr.
Es wurde also gesagt,
wenn der Mensch geboren wird,
wird ihm ein Wort mitgegeben,
und es war wichtig, was gemeint war:

nicht nur eine Veranlagung,
sondern ein Wort.
Das wird hineingesprochen in sein Wesen,
und es ist wie das Passwort
zu allem, was dann geschieht.
Es ist Kraft und Schwäche zugleich.
Es ist Auftrag und Verheißung.
Es ist Schutz und Gefährdung.
Alles, was dann im Gang der Jahre geschieht,
ist Auswirkung dieses Wortes,
ist Erläuterung und Erfüllung.
Und es kommt alles darauf an,
dass der, dem es zugesprochen wird
- jeder Mensch,
denn jedem wird eins zugesprochen –
es versteht und mit ihm ins Einvernehmen kommt. Und vielleicht wird dieses Wort
die Unterlage sein zu dem,
was der Richter einmal zu ihm sprechen wird.

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28.12.2020 - Bistum Augsburg