Mitlaufen reicht nicht!

Die Kirche als „keusche Hure“ auf dem Weg mit Jesus.
Predigt von Bischof Bertram Meier an Palmsonntag, 28. März, 2021

Es gab sie damals wie heute. Auch Jesus kannte sie auf dem Weg von Galiläa nach Jerusalem: die Mitläufer. Sie wollen gar nicht richtig mitbekommen, was eigentlich los ist. „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“ Und gleichzeitig sagt sich der Mitläufer: „Ich habe mich durch das Leben belehren lassen. Es ist am besten, sich anzupassen, mitzugehen, wo andere auch hinlaufen, mit zu schwimmen auf der großen Woge.“ Die große Woge: Immerhin hat sie Millionen getragen in der Kirche seit dem dritten Jahrhundert, als die Zahl der Christen hochschnellte, weil es etwas brachte, mit Jesus zu schwimmen. 

Heute sieht das freilich etwas anders aus: Fiel man früher auf, wenn man am Sonntag im Bett blieb, sticht heute der ins Auge, der sein Haus verlässt und zum Gottesdienst geht. Auch wenn es nicht mehr so viele sind wie noch vor einigen Jahren, die Zahl derer, die aus der Kirche austreten, ist für mich doch ein Barometer dafür, welches Klima im Hinblick auf unsere Gemeinschaft herrscht: Viele wollen weder mitschwimmen noch mitlaufen. Skandale tun ihr Übriges, um Wege hinaus aus der Kirche zu bahnen. Es gibt auch Wellen, die angestoßen werden können – gerade jetzt in emotional aufgeheizten Zeiten. Lassen wir uns nicht in einen Sog hineinziehen! Glauben wir nicht alles, nur weil es in der Zeitung steht, im Fernsehen kommt oder auf Internetplattformen verbreitet wird!

Die Kirchen schrumpfen. Wer das Gesundschrumpfen nennt, muss sich in Acht nehmen vor Schönfärberei. Für mich ist jeder Kirchenaustritt ein Fragezeichen: Warum kehrt dieser Mensch uns den Rücken? Und gleichzeitig stehe ich vor einem Ausrufezeichen, das mir sagt: Übe dich in Geduld! Denn hat nicht jede Familie Mitläufer, Menschen, die getragen werden müssen, weil sie nicht fähig 

sind, selbst zu entscheiden, oder nur halb entschlossen sind, schwanken und gestützt werden müssen? Was wird aus ihnen, wenn wir sie ziehen lassen – einfach so?

Jesus hat alle eingeladen, mit ihm nach Jerusalem zu gehen. Viele Mitläufer sind dabei, als sie in Sprechchören „Hosanna“ rufen und applaudieren. Bei der Demo am Palmsonntag machen viele mit. Es kostet wenig, ein paar Palmzweige zu schwingen und Jesus zu beklatschen. Doch bald lichten sich die Reihen. Mit Jesus gehen hat seinen Preis; unter Umständen kostet es sogar das Leben. Da können, ja da wollen manche nicht mehr mit. Aber Vorsicht: In der Kirche sind nicht nur die Perfekten, die Reinen, die Unbefleckten. Kirche ist „simul iusta et peccatrix“, gerecht und sündig zugleich. Daran ändert auch unser Bekenntnis zur „heiligen Kirche“ nichts. Denn gerade diese Krise zeigt uns: So lange sie lebt, wird die katholische Kirche bleiben, was schon Bischof Ambrosius, der Lehrer des Augustinus, im 4. Jahrhundert feststellte: eine „casta meretrix“, eine keusche Hure (Expositio in Lucam, III 23). Die von Weihrauchschwaden umwölkte Mystik und das Geheimnis des Entrückten, des „Keuschen“, gehören zur Kirche; sie machen weltweit für viele Millionen bis heute ihre Faszination aus. Doch solche „Heiligkeit“, die wir beanspruchen und oft nicht einlösen, hat ihren Preis. Hinter der sakralen Nebelwand - gerade hinter „Brüdern im Nebel“, wie Kardinal Joachim Meisners sein Geheimdossier über dunkle Priestergestalten nannte - blüht nicht nur die Fantasie des Himmlischen und Göttlichen, sondern auch die der weltlichen Laster und Leidenschaften, der Sünden und Verbrechen. Denn nicht Engel, sondern leibhaftige Menschen hüten das heilige Feuer. Eine unbefleckte katholische Kirche gibt es darum so wenig wie einen unschuldigen, sündenlosen Menschen. Die Kirche war und ist nicht „immakulat“, makellos und rein. Denn die Kirche sind wir selbst, Spiegel des Menschseins. Obwohl wir dem Allerheiligsten dienen, sind wir oft alles andere als heilig. Das müssen wir zugeben. Das können wir beklagen. Ändern aber können wir es nicht.

Daher sollten wir auch die Mitläufer, die wir kennen, nicht einfach abschreiben. Im Gegenteil: Wir sollten sie bestürmen zu bleiben und mitzugehen – trotz allem: heute am Palmsonntag bis Ostern und darüber hinaus. Vielleicht wird aus einem Mitläufer ein Begleiter. Jesus freut sich, wenn wir keinen abschreiben. 

Ich danke Ihnen für Ihr Mitlaufen, auch wenn es gerade viel Kraft kostet in vielerlei Hinsicht, und bitte Sie: Lassen Sie möglichst viele mitkommen, wenn wir uns als Kirche auf den derzeit schwierigen Weg machen. Und danke allen, die einfach mitgehen – nicht als unkritische Mitläufer, sondern als konstruktive Wegbegleiter und -gestalter! Wir haben eine Richtung und ein Ziel: das Kreuz. Im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Leben, im Kreuz ist Hoffnung. Amen.

28.03.2021 - Bistum Augsburg