Predigt von Bischof Bertram Meier auf dem Andechser Dreihostienfest 2021

Keine Konservenkirche, sondern Gemeinschaft mit Esprit

„Vergiss den Herrn, deinen Gott, nicht!“ (Dtn 8,10) Das Wort aus dem Buch Deuteronomium kann man fast überhören. „Vergiss den Herrn, deinen Gott, nicht!“ Es war eine Mahnung an das Volk Gottes, ein Ausrufezeichen für die, die längst im „Gelobten Land“ angekommen und sesshaft geworden waren. Ist es nicht auch Mahnung und Forderung an uns heute, an mich, an uns alle, die wir noch immer unter Corona-Bedingungen das kirchliche Leben gestalten müssen: „Vergiss den Herrn, deinen Gott, nicht!“

Einige von Ihnen werden nun einwenden: „Gott bewahre! Ich habe ihn gerade in den letzten Monaten nicht vergessen! Ich meistere und gestalte mein Leben mit ihm, zumindest versuche ich es. Auch als keine öffentlichen Gottesdienste möglich waren, habe ich mein Gebetsleben nicht eingestellt, im Gegenteil: Ich war privat noch mehr im Kontakt mit Gott als zuvor.“ Andere sagen: „Wir haben unsere Familie, unseren Konvent, unser Miteinander wieder mehr als geistliche Gemeinschaft entdeckt und Hauskirche praktiziert.“ Wieder andere haben für die Aufhebung der Gottesdienst- beschränkungen geradezu gekämpft und sich bisweilen mitreißen lassen in den Sog derer, die meinen, dass die Kirchenleitung – bis hinauf zu den Bischöfen – einen Bückling vor den staatlichen Autoritäten gemacht habe, als sie sich den behördlichen Auflagen beugte. Von welcher Richtung wir das Ganze anschauen, es stellt sich immer die Frage: Müssen wir uns tatsächlich mahnen lassen mit dem Aufruf: „Vergiss den Herrn, deinen Gott, nicht!“ Wir haben Gott nicht vergessen, wir lassen ihn nicht in der Ecke verstauben, bis wir nicht mehr wissen, dass es ihn gibt. Denn „der Mensch lebt nicht nur vom Brot allein“ (Mt 4,4), sondern in und durch die Gemeinschaft mit Gott. Dies ist ein Anlass, uns um 500 Jahre zurückzublenden. Viele Jubiläen jähren sich: 500 Jahre Reichstag zu Worms mit dem berühmten Ausspruch Martin Luthers; 500. Geburtstag des Zweiten Apostels Deutschlands, des hl. Petrus Canisius; 500 Jahre Fuggersche Stiftungen in Augsburg. Und was tut sich in Andechs? Am 1. Juni 1521 stirbt Abt Johannes II. Danach geht – wie ein späterer Chronist vermerkt – „die

Clösterliche Disciplin den Krebsgang“, d.h. das geistliche Leben fällt in eine Krise. Unter dem nachfolgenden Abt Christoph Riedter verringert sich als Folge der Reformation die Zahl der Wallfahrer um mehr als die Hälfte. Damit schwinden die Einnahmen, das Kloster gerät in Schulden. Nach der finanziellen Krise wachsen auch Zweifel um einen großen geistlichen Schatz des Klosters. Von verschiedenen Seiten wird angefragt, ob die Heiligen Drei Hostien noch in einem anbetungswürdigen Zustand seien. Nach der Lehre der Kirche müssen sie nämlich unverdorben sein, d.h. nicht oder nur geringfügig zerfallen. Visitationen und Untersuchungen, Kommissionen und Diskussionen mit dem Nuntius bringen eine Lösung – vatikanisch/diplomatisch. Die Anbetung der Hostien wird nicht verboten. Das Kloster Andechs solle aber darauf achten, dass die drei Hostien mit größter Sorgfalt behandelt und alle Erschütterungen vermieden werden, die einen weiteren Zerfall begünstigen. Soweit zur Geschichte. Kommen wir wieder in die Gegenwart! Heute feiern wir das Dreihostienfest. Die neue Normalität ist noch nicht da. Viele – auch Kirchenleute – beklagen, dass in unserer Gesellschaft, vor allem in der abendländischen Kultur, die Gottvergessenheit um sich greife. Die alttestamentliche Lesung scheint in dieselbe Kerbe zu schlagen. Konkret benennt sie eine Gefahr, die uns Menschen Gott vergessen lässt: wenn man satt geworden ist und zufrieden mit den Umständen, wenn man sich im Wohlstand ausruht und Reichtum sammelt, wenn man sich im „Gelobten Land“ wähnt. Dann neigen wir dazu zu sagen: „Ich habe mir den Reichtum aus eigener Kraft erarbeitet und durch eigene Hand erwirtschaftet.“ Wie heißt der Spruch: Mein Wagen! Mein Titel! Mein Haus! Aber das ist ein ichbezogener Irrtum.

Corona hat uns gezeigt, wie zerbrechlich solche vermeintlichen Sicherheiten sind: Die Automobilindustrie liegt am Boden; unsere Titel werden zweitrangig, wenn eine Pandemie uns bedroht; und selbst das Eigenheim kann zum Gefängnis werden, wenn wir uns in Zeiten der Quarantäne darin einschließen müssen. Corona hat vieles durcheinandergewirbelt, auch in der Kirche. Wir müssen manches neu ordnen, vielleicht anders aufstellen, einen Kassensturz machen – und alles unter dem Vorzeichen: Vergiss den Herrn, deinen Gott, nicht!

Was heißt das für unser Dreihostienfest 2021? Auch wenn wir es äußerlich anders feiern müssen, die Botschaft des heutigen Tages bleibt unverändert.

Zunächst verbinden wir mit Fest, dass wir aus der Kirche hinausgehen. Wir verlassen einen ummauerten Raum, wir öffnen unsere Portale und treten ins Freie. Wir tun es nicht allein. ER, der Allerheiligste – nicht als Sache, sondern als Person – ist dabei. Obwohl wir heuer nicht „summa cum pompa“ nach draußen gehen können, sagt uns das heutige Fest: Die Kirche hat die Aufgabe, „die Weite zu suchen“ im wörtlichen Sinn: also nicht fahnenflüchtig zu werden, wenn Probleme und Streitigkeiten kommen, sondern nach dem Psalmwort zu handeln, das wir so gern intonieren: „Du führst mich hinaus ins Weite.“ (18,20) Ja, der Herr wünscht sich eine weite Kirche. Denn Jesus hat uns zum „Leben in Fülle“ (Joh 10,10) befreit, zu einem Leben mit Höhen und Tiefen, vor allem aber mit dem Panorama einer Weite, die kein Scheuklappendenken kennt. Jesus traut uns zu, dass wir leben können, ohne dass wir alles kleinlich vorschreiben oder kleinkariert festlegen müssten. Jesus, der gute Hirte, führt uns in die Weite. Das nehme ich sehr ernst auch für mein Hirtenamt. Ich möchte nicht diejenigen über mich und die mir anvertrauten Gläubigen Macht gewinnen lassen, die Angst haben vor zu großer Weite und deshalb die Schafe lieber in einem engen Stall einpferchen wollen. Freilich: Im Stall kann man nicht viel falsch machen, dazu gibt es auch zu wenig Bewegungsfreiheit. Aber dort kann man nicht einmal richtig leben – höchstens darauf warten, dass man gemolken, geschoren und schließlich geschlachtet wird.

Dass wir Eucharistie feiern können und das „Brot des ewigen Lebens“ austeilen, ist für mich zuerst einmal ein Grund zu großer Freude. Das „eucharistische Fasten“ ist vorbei. Daher fällt es mir schwer zu verstehen, wie man die Art des Kommunionempfangs zum Zankapfel hochstilisieren kann. Das ist ein Schattengefecht. Davon hängt das Seelenheil nicht ab. Die Gnade des ewigen Lebens, die der Leib Christi schenkt, wirkt unabhängig davon, ob ich mir die Hostie in die Hand oder auf die Zunge legen lasse.

Die zweite Botschaft, die im heutigen Tag steckt, heißt: voranschreiten, Fortschritte machen. Unter normalen Bedingungen würden wir in einer großen Prozession durch den Ort ziehen. Das Wort „Prozession“ kommt ja vom lateinischen „procedere“, was so viel heißt wie: vorwärtsgehen, fortschreiten, nach vorne gehen. Wer eine Prozession machen will, darf nicht auf der Stelle treten; er muss voranschreiten. Das gilt auch für unser kirchliches Leben. Wir dürfen nicht auf der Stelle treten, wir müssen uns weiterentwickeln. Dafür haben wir einen Garanten, den Heiligen Geist, den wir hoffentlich nicht aus dem kirchlichen „Stall“ ausgesperrt haben.

Für die Kirche gibt es keinen Fortschritt im Rückwärtsgang. Sie soll Schritt halten mit den Menschen; sie muss beweglich bleiben, um neue Wege zu finden, damit das Evangelium Jesu Christi richtig ankommt; Jesus will Kommunikation – in einer Sprache, für die man kein Fremdwörterlexikon braucht, sondern die das Volk hören und verstehen kann. Wer auf der Stelle tritt, der kann vielleicht Sauerkraut stampfen, das man dann einmacht und „konserviert“; aber Jesus will keine „Konservenkirche“, keinen sauertöpfischen Verein, sondern eine lebendige und liebenswerte Gemeinschaft mit Esprit, um nach vorn zu schreiten: Prozession am Heiligen Berg! Das Gegenteil der Prozession ist Rezession - rückwärtsgehen, nach hinten gewandt. Das können wir nicht wollen. Was wir durch Corona für die Wirtschaft befürchten, sollten wir für die Kirche tunlichst vermeiden. Also: nicht Rezession, sondern Prozession!

Schließlich hat das Dreihostienfest für uns noch eine dritte Botschaft parat: Christus hochhalten. Darauf verzichten wir heute nicht. Wir stellen die Hostie in die Monstranz, Damit zeigen wir: Christus ist uns heilig. Die Hostie ist nicht nur unser Allerheiligstes; kein Ding, sondern Person: der Allerheiligste. Ohne ihn können und wollen wir nicht leben. Wie an Fronleichnam, so halten wir heute Christus hoch; wir lassen ihn hoch- leben, damit wir auch schwierige Zeiten unversehrt überleben. Nicht um Personen geht es uns, nicht um uns selbst oder irgendwelche Lobbyisten, die es auch in der Kirche gibt, sondern um IHN, den Herrn, der in seiner großen Barmherzigkeit alle an sich zieht. „Vergiss den Herrn, deinen Gott, nicht!“ Das Wort, das an das Volk Israel erging, trifft auch uns, das neue Volk Gottes, die Kirche in dieser unsicheren Zeit. Was Papst Franziskus am 16. April 2013 in Santa Marta predigte, empfehle ich als Wegweiser: „Um es klar zu sagen: Der Heilige Geist ist für uns eine Belästigung. Wir wollen, dass der Heilige Geist sich beruhigt. Wir wollen ihn zähmen. Aber das geht nicht. Denn er ist Gott und ist wie der Wind, der weht, wo er will. Er bewegt uns, er lässt uns unterwegs sein, er drängt die Kirche weiter zu gehen. Es ist dieses Vorwärtsgehen, das für uns so anstrengend ist. Die Bequemlichkeit gefällt uns viel besser. Wir wollen uns nicht verändern, und es gibt sogar auch Stimmen, die gar nicht vorwärts wollen, sondern zurück: Das ist dickköpfig, das ist der Versuch, den Heiligen Geist zu zähmen.“ Der lebendige Gott bewahre uns vor einer Zähmung des Heiligen Geistes!

28.09.2021 - Predigt