Predigt zum Hochfest des hl. Ulrich am 4. Juli 2020 von Bischof Bertram Meier

Bischof Ulrich und die Frauen

Streiter in Not,

Helfer bei Gott!

Du Bischof und Held,

von Gott auserwählt,

mit Glaubenskraft beseelt.

Weise im Rat,

mannhaft an Tat

und mächtig im Wort,

der Heimat ein Hort,

bleib es auch immerfort.

Diese Worte der Franziskanerin von Maria Stern, Schwester Germana Förster OSF, die der Komponist Arthur Piechler vertont hat, stecken die äußere Biographie des hl. Bischofs Ulrich ab. Doch verbirgt sich hinter den großen Ereignissen einer Lebensgeschichte immer auch ein innerer Weg, der die Entwicklung eines Menschen und dessen Charakter widerspiegelt. Das gilt auch für Bischof Ulrich. 1839 hat Professor Lorenz Stempfle (1798-1844) in seiner Predigt zum Fest des hl. Ulrich in Dillingen das Wirken unseres Bistumspatrons folgendermaßen zusammengefasst: „Von der heiligen Macht des Glaubens und der Liebe ergriffen, widmete er sich ganz dem Dienste des Herrn und leitete die ihm anvertraute Herde mit der Treue des besten Hirten, mit der Sorgfalt des liebenden Vaters, mit der Liebe einer zärtlichen Mutter.“

Klingt das nicht erstaunlich modern? Unser Blick auf die Vergangenheit wird immer durch die Gegenwart geprägt. So entdeckten erst vor wenigen Jahrzehnten die Theologen die mütterliche Seite Gottes in der Bibel und wir können nicht dankbar genug sein für dieses Zurechtrücken unseres manchmal sehr einseitigen Gottesverständnisses. 

Schon etwa zehn Jahre nach Ulrichs Tod beginnt sein ehemaliger Dompropst Gerhard das Leben des Heiligen niederzuschreiben, das den Prototyp eines Reichsbischofs der Ottonen zeigt und die Grundlage für seine Verehrung schafft. Doch wer den hl. Ulrich nur als Organisator, Politiker und Reichsfürst sieht, greift, wie Prof. Stempfle meinte, zu kurz: Ulrich leitete sein Bistum wie ein guter Hirte, ein liebender Vater und eine zärtliche Mutter. Woher hatte er diese Tugenden? Wer hat sie ihm eingepflanzt? Drei Frauen fallen mir ein, wenn ich mir und uns heute diese Fragen stelle.

Da ist zunächst seine Mutter Thietburga. Bis heute birgt die Pfarrkirche von Wittislingen, einst inmitten der gräflichen Burg erbaut, ihr Grab. Noch ein Jahr vor seinem Tod hat Bischof Ulrich die Kirche erweitern lassen, um dort die Grabstätten seiner Eltern und Vorfahren unter einem Dach zu vereinen. Seiner Mutter Thietburga blieb er zeitlebens eng verbunden. War sie es doch, die ihren Sohn glauben und beten lehrte, die den jungen Adeligen einführte in das kirchliche Leben, nicht nur in eine standesgemäße Karriere, sondern als ein Sich-Hineinfühlen und Hineintasten in die Kirche als geistlichen Raum. Als Kind, so erzählt die Heiligenlegende, ging Ulrich jeden Tag von Wittislingen zu Fuß in das zwei Stunden entfernte Dillingen zur Klosterschule und auch, um Verwandte zu besuchen; oft kehrte er erst spät am Abend wieder nach Hause zurück. Der Weg führte durch sumpfiges Ried, und weil der Kleine sich schon mehrmals verlaufen hatte, ließ seine Mutter täglich um neun Uhr abends die Glocke läuten, damit ihr Sohn sicher nach Hause käme. Doch an einem nebeligen Herbsttag – wir kennen das ja aus dem Donaumoos – verlor Ulrich Weg und Steg. Wie sehr er sich auch mühte, er fand nicht heim. Auch den vertrauten Glockenton vernahm er nicht. Der Knabe gab nicht auf, suchte Zuflucht im Gebet und wie durch ein Wunder erklang plötzlich doch die Glocke und er fand ins Elternhaus zurück - es war aber schon zwei Uhr nachts! Sorgenvoll und unruhig hatten die Eltern – vor allem Thietburga –auf den Sohn gewartet und, da man nach Mitternacht sonst nie die Glocke läutete, deuteten sie dieses Ereignis als fürsorglichen Wink Gottes, der dem jungen Ulrich den Heimweg wies. Bis heute schlägt das Glockengeläute, das täglich um 21 Uhr und um 2 Uhr nachts für eine Minute zu hören ist, eine Klangbrücke zu diesen längst vergangenen Zeiten. 

In Thietburga begegnet uns also die sorgende und suchende Frau und Mutter; erfinderisch in der Liebe, schafft sie eine Orientierungshilfe für den verirrten Sohn. Mutterliebe ist voraussetzungslos; sie kann nie vergolten werden. Deshalb ist es so schmerzhaft, wenn das Verhältnis zwischen Mutter und Kind gestört ist. In der Heiligen Schrift lesen wir den tröstenden Satz: „Kann denn eine Frau ihr Kind vergessen? Wenn auch eine Mutter ihren Sohn vergisst, ich vergesse dich nicht – spricht der Herr.“ (Jes 49,15). Wie eine Mutter sucht Gott nach uns. Auch der Gute Hirt, dem Ulrich später als Bischof nacheiferte, geht dem verlorenen Schaf nach. Der Reichsfürst zeigt Züge „einer zärtlichen Mutter“ - das ist wohl wesentlich seiner Mutter Thietburga zu verdanken. Die Einwohner von Wittislingen verehren sie mit Recht als Selige.

In der Antike und im Mittelalter blieben Kinder, zumal adelige, nicht lange in der Familie. Wir kennen das noch Jahrhunderte später von der hl. Elisabeth von Thüringen. So gilt auch Ulrich bereits mit zehn Jahren als reif genug für ein Studium in der Abtei St. Gallen, wo er von 900 bis 908 bei den Benediktinern als Zögling lebte. Einfühlsam und etwas blumig beschreibt Prof. Stempfle dies in seiner Predigt so: „Indes mochte den heranblühenden Jüngling, vom Donautale ins Gebirgsland und in den Kreis ernster Männer versetzt, vielleicht manchmal ein stilles Heimweh nach dem elterlichen Hause und seiner lieben Mutter beschleichen. Denn es ist dem jugendlichen Herzen so wohltuend, wenn es sich – dem Ernst des Vaters und der Lehrer gehorchend – auch an ein Mutterherz, das mild und zärtlich sorgt, anschmiegen kann. Die göttliche Vorsehung fügte es aber, dass in der Nähe des Stiftes Sankt Gallen eine gottselige Jungfrau als Reklusin lebte, mit Namen Wiborada, welche Ulrich kennenlernte. Er verehrte und liebte sie wie seine Mutter, und wohl hätte Thietburga, seine fromme Mutter, nicht mehr über sein Herz vermocht als jene gottgeweihte Jungfrau, welche Ulrich wie seine zweite Mutter hochschätzte. Wenn seine Mitschüler in jugendlichen Spielen sich ergötzten, schlich Ulrich sich davon und ging zu Wiborada, wo er in frommen und heiligen Gesprächen edlere und größere Freuden genoss. Mit mehr als mütterlicher Liebe ermunterte und bestärkte sie ihn, allem nachzukommen und in allem treu zu sein, wozu seine Lehrer und Führer ihm Anweisung erteilten.“ In der Frage, welche Berufung für ihn die richtige sei, entschied Ulrich nichts auf eigene Faust, ohne zuvor „ein weiseres, tieferes und besseres Urteil eingeholt zu haben als sein eigenes“. In Konflikten und wenn er unsicher war „eilte er sofort zu Wiborada, um ihre Meinung zu vernehmen.“ 

Deshalb wurde Ulrich von seinen Mitstudenten oft als „Frömmler“ belächelt. Heute würden wir sagen: In Wiborada fand Ulrich eine erfahrene geistliche Begleiterin. Gerade Heranwachsende brauchen Vorbilder – und das können ab einem gewissen Alter nicht mehr die Eltern sein. Ulrich erlebte das Geschenk einer Beziehung, die in und durch Gott gegründet war: Die Reklusin Wiborada, die sich als junge Frau neben einer Kapelle vom Bischof hatte einmauern lassen und so zur Inklusin wurde, war ihm Mutter und Schwester zugleich. Wiborada, die Sesshafte, die unverrückbar an ihrem Platz „Eingehauste“, ist ein lebendiges Zeichen für die stabile Nähe Gottes, der sich Mose offenbarte als der, der einfach da ist (vgl. Ex 3,14). Gott ist anwesend, unaufdringlich präsent und einladend. Für den jungen Ulrich auf der Suche nach seiner Berufung wirkte Wiborada wie Gottes offenes Ohr. Dass ihr Name weit über die Grenzen St. Gallens hinausstrahlte, zeigt die Tatsache, dass die Märtyrerin Wiborada von Papst Clemens II. bereits im Jahr 1047 heiliggesprochen wurde – übrigens die erste Frau, die ein Papst kanonisiert hat.

Noch eine Nuance verrät uns der Name: Wiborada ist die latinisierte Form des althochdeutschen „Wiberat“, was so viel heißt wie „Weiberrat“. Ulrich hat auf den „Weiberrat“, den Rat einer Frau, viel gegeben. Über seine spirituellen und theologischen Lehrer im Stift St. Gallen hinaus hat er, ein Blaublütiger, sich einer Frau namens „Weiberrat“ anvertraut; er hat sich von ihr geistlich beraten und begleiten lassen. Ohne anachronistisch zu sein, wage ich die kühne These, dass Ulrich - wie selbstverständlich - durch eigene geistliche Praxis das vorbereitet hat, was wir heute geschwisterliche Kirche nennen. Glücklich, wer um eine gute, ehrliche und konstruktiv-kritische geistliche Begleitung weiß! Das gilt auch für geweihte Amtsträger – den Bischof eingeschlossen.

Eine weitere Frau, der Bischof Ulrich besonders verbunden war, ist die hl. Afra. In seinem Hirtendienst war ihm stets bewusst, dass Afra den Mutterboden des Glaubens für die Stadt Augsburg und sein Bistum maßgeblich mitbereitet hat. Ja, er hat sogar von Afra geträumt. Die Legende erzählt, wie Afra dem schlafenden Ulrich im Traum erscheint und ihm, dem Reichfürsten, durchs Fenster den Apostelfürsten Petrus zeigt, wie er mit Bischöfen auf dem Lechfeld beisammensitzt und eine Synode abhält. Petrus teilt Ulrich mit, dass er beim Kaiser die ihm zustehende Weihe über Klöster und Stifte gegen Herzog Arnulf durchsetzen solle, der kirchliche Besitztümer in die Hände von Laien übertrug. Die Verehrung der hl. Afra zu fördern war eines der Hauptanliegen Bischof Ulrichs; so lässt er die durch den Hunneneinfall zerstörte Afrakirche vor der Stadt wiederaufbauen und verfügt, dass er nach seinem Tod vom Dom dorthin überführt und in der Nähe der Heiligen beigesetzt werde. Der Überlieferung nach wird Ulrich mit dem Teppich, auf dem er nach alter mönchischer Tradition auf der Erde schlief, begraben. Dem Trauergottesdienst steht mit dem Regensburger Bischof, dem hl. Wolfgang, ein guter Freund Ulrichs vor. 

Die hl. Afra repräsentiert alle Christen der ersten Jahrhunderte, die im Römischen Reich unter Benachteiligung und Verfolgung zu leiden hatten. Sie war Ulrich sicherlich auch Vorbild und Ansporn, sich furchtlos zu seiner Stadt und der in ihr lebenden Bevölkerung zu bekennen und den Hunnen entgegenzuziehen, um sie weit vor den Toren der Stadt zu schlagen – im Zeichen des Kreuzes! Afra war für Ulrich wie eine Fackel, zündendes Beispiel - vom Heiligen Geist entfacht. Ihr Licht war kein Strohfeuer, das schnell aufflackert und ebenso rasch erlischt wie eine Wunderkerze am Christbaum. Sie war Feuer und Flamme für Christus, nicht kurzlebig wie eine frisch Verliebte, sondern mit dem langen Atem der Treue. Feuer und Flamme für Christus war Afra selbst dann noch, als das Bekenntnis ihr das Leben kostete. Für ihren Herrn ging sie nicht nur durchs Feuer, sie ging in die Flammen des Todes. Nicht liegend auf dem Scheiterhaufen, sondern aufrecht stehend, an einen Pfahl gebunden, stellt die Kunst sie dar. Afra ist nicht umgefallen, nicht einmal im Sterben. - Damit lädt sie uns zu einer ehrlichen Gewissenserforschung ein. Wie steht es um unser Bekenntnis,

- wenn heiße Eisen der Kirche diskutiert werden - am Arbeitsplatz, im Bekanntenkreis, unter Angehörigen oder in der Familie?

- wenn der Boden heiß wird angesichts der Kritik, die gegenüber der Kirche und ihren Vertretern geäußert wird - am Stammtisch oder beim Kaffeeplausch?

- wenn flammende Reden gehalten werden und Debatten darüber entbrennen, ob wir Gott überhaupt noch brauchen in einer Gesellschaft, für die der christliche Glaube scheinbar nicht mehr „systemrelevant“ ist!

Drei Frauen – drei Schicksale – dreimal das individuelle, unverwechselbare Bekenntnis zu Christus! Wer sich an die Adventspredigten erinnert, die ich 2019 gehalten habe, weiß, dass ich damals vier Frauen der Kirchengeschichte unter dem Stichwort Ermutigt – Ermächtigt vorstellte. Als Bischof von Augsburg und 62. Nachfolger des hl. Ulrich rufe ich Ihnen heute zu: Wir brauchen einander! Wir brauchen die von Gott geschenkten Talente und Charismen, die, wie wir alle wissen, nicht an das Mannsein gebunden sind. Jesus selbst sagte über die Frau, die ihn gesalbt hat: „Auf der ganzen Welt, wo dieses Evangelium verkündet wird, wird man auch erzählen, was sie getan hat, zu ihrem Gedächtnis.“ (Mt 26,13; vgl. Mk 14, 9) Bischof Ulrich hat um Frauen gewusst, die seinen Glauben und sein Wirken als geistlicher Mensch gefördert, inspiriert und getragen haben. Von ihnen hat er sich maßgeblich prägen lassen. An seinem Hochfest ehren wir auch sie: die sel. Thietburga, die hl. Wiborada und die hl. Afra. Diese drei Namen halten wir hoch – gerade heute am Fest des hl. Ulrich. Amen.

04.07.2020 - Bistum Augsburg , Gottesdienst