Vor 125 Jahren

Als die Bilder laufen lernten

Das Kino hat Geburtstag – und kann angesichts der Corona-Krise und der geschlossenen Lichtspielhäuser gar nicht feiern. Vor 125 Jahren, im Frühsommer 1895, zeigten der Kölner Süßwarenfabrikant Ludwig Stollwerck und der New Yorker Erfinder Thomas Alva Edison der staunenden Öffentlichkeit die ersten Filmaufnahmen Deutschlands. Noch im selben Jahr eröffneten die Brüder Max und Emil Skladanowsky in Berlin das erste kommerzielle Filmtheater der Welt. 

Jene Pionierzeit des Kinos bot ideale Bedingungen für findige Unternehmer. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts hatten „Stereoskope“ mit optischen Tricks und dreidimensionalen Illusionen die Schaubuden der Jahrmärkte erobert. Jetzt revolutionierten erstaunliche Apparate wie das „Elek-trotachyscop“ und das -„Kinetoskop“ die Projektionstechnik und ermöglichten es, bewegte Bilder vorzuführen. 

Elektrischer Schnellseher

Die Geräte wurden in Deutschland und den USA nahezu gleichzeitig entwickelt und fanden weite Verbreitung. Mit seinem „elektrischen Schnellseher“ oder „Elektrotachyscop“ konnte der Berliner Fototechniker Ottomar Anschütz 1887 bewegte Bilder erzeugen. Der mechanische Apparat bestand aus einer 1,5 Meter breiten stroboskopischen Scheibe und 24 gläsernen Fotoplatten im Format 9 mal 13 Zentimeter.

Beleuchtete man die Scheibe von hinten mit einer elektrischen Entladungsröhre und ließ sie per Handkurbel mit 30 Bildern pro Sekunde rotieren, entstand aufgrund der Trägheit des menschlichen Auges der frappierende Eindruck kontinuierlicher Bewegung. Mit seiner spektakulären Erfindung kreierte Anschütz einen Vorläufer des Kinofilms.

Die Weltausstellung von 1893 in Chicago war in ihren Dimensionen überwältigend und hatte einen immensen Einfluss auf die Kunst der Zeit. Eigentlich sollte die Firma des amerikanischen Erfinders Thomas Alva Edison die 70 000 Aussteller aus 46 Ländern mit elektrischem Licht versorgen, aber das Angebot war zu hoch. 

Der kreative Kopf und Geschäftsmann ließ sich von dem geplatzen Deal nicht beirren und präsentierte auf der Ausstellung eine Weiterentwicklung von Anschütz’ „Schnellseher“. In Edisons Laboratorien hatte der Schotte William Kennedy Laurie Dickson bereits 1888 damit begonnen, sowohl den Kinetographen als auch das Kinetoskop zu entwickeln – die ersten brauchbaren Apparate zur Aufnahme und Betrachtung bewegter Bilder. 

Das Kinetoskop war ein Guckkasten, der an einen Kleiderschrank erinnerte. An der Kiste mussten die Zuschauer einzeln Platz nehmen, um sich die „lebenden Fotografien“ anzusehen. Im Innern wurden entwickelte und perforierte Filmstreifen durch eine Glühbirne beleuchtet. Rollfilm aus Zelluloid war damals etwas völlig Neues. 

Um die Funktionsweise seiner zylindrischen Kamera zu testen, drehte Amateurfotograf Dickson 1890 die jeweils nur wenige Sekunden dauernden Filme „Monkeyshines Nr. 1, 2 und 3“. Sie zeigten einen verschwommenen Mann und gelten heute als die ersten Filme, die in den USA gedreht wurden.

Im Auftrag der „Edison Manufacturing Company“ leitete Dickson den Bau des ersten Filmstudios der Welt. „Black Maria“ wurde 1893 in West Orange (New Jersey) eröffnet und stellte noch im selben Jahr den ersten kommerziell verwerteten Streifen her: „Blacksmith Scene“ zeigte drei biertrinkende Schmiede bei der Arbeit. 1895 endete die Zusammenarbeit zwischen Edison und Dickson im Streit. 

Staunende Öffentlichkeit

Im Frühsommer 1895 taten sich der Kölner Süßwarenfabrikant Ludwig Stollwerck und der New Yorker Erfinder Edison in Hamburg zur „Deutsch-Oesterreichischen Edison-Kinetoskop-Compagnie“ zusammen und zeigten der staunenden Öffentlichkeit die ersten Kurzfilme im Deutschen Reich. Da es nur wenige Filme für die Kinetoskopen gab, wurde Stollwerck zum Sponsor des englischen Film-pioniers Birt Acres – und damit zum ersten deutschen Filmproduzenten. 

Am 21. Juni 1895 filmte Acres die feierliche Eröffnung des Kaiser-Wilhelm-Kanals, des heutigen Nord-Ostsee-Kanals, in Kiel sowie einen Truppenbesuch von Wilhelm II. im Umfeld der Veranstaltung. Der Streifen „Opening of the Kiel Canal“ gilt als eine der ersten Aufnahmen, die in Deutschland entstand, und machte den Kaiser zum ersten Staatsoberhaupt, das auf Film gebannt wurde. 

Filmförderer Ludwig Stollwerck war der zweitjüngste der in der Schokoladenbranche zu Reichtum und Ansehen gelangten Kölner Gebrüder Stollwerck. Technisches Wissen, eine neue Verkaufsstrategie und weitläufige Kontakte in die internationale Erfinder- und Unternehmerszene trugen dazu bei, dass er um 1900 auch im Kinematographengeschäft Fuß fasste. 

„Die ganze Hexerei“

Am 16. April 1896 schrieb der Kölner an seinen New Yorker Teilhaber John Volkmann: „Ich habe nie in meinem Leben eine Erfindung gesehen, mit welcher ohne Risiko und fast ohne Arbeit soviel Geld verdient wurde. Die Leute schleppen ja das Geld rein ins Haus! Man geht mit einem kleinen Apparate von 20 ctm Höhe, 20 ctm Breite und 12 ½ ctm Tiefe hin, dreht daran und nimmt überall auf Filmstreifen die Photographien auf. Dann macht man es umgekehrt, setzt das Licht anstatt nach vorn nach hinten und wirft die Bilder auf die Wand. Das ist die ganze Hexerei.“

Ebenfalls 1895 fand in Paris die erste Vorführung eines Films statt, der mit einem neuartigen „Cinématographe“ aufgenommen und auch abgespielt wurde. Hier waren es die bereits in der Weiterentwicklung der Fotografie so erfolgreichen Brüder Auguste Marie und Louis Jean Lumière, die als erste Europäer im Kinogeschäft reüssierten. 

Zahlreiche zahlende Gäste fanden sich am 28. Dezember 1895 in einem Café am Pariser Boulevard des Capucines ein, um Kurzfilme wie „Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof von La Ciotat“ oder „Abbruch einer Mauer“ zu bestaunen – stumme Schwarzweißszenen aus dem Alltag mit lediglich 15 bis 20 Bildern in der Sekunde. Sie dauerten in der Regel nur etwa eine halbe Minute. Mehrere solcher Szenen reihten sich zu einem kurzen, aber eindrücklichen Kinoerlebnis von et-wa 20 Minuten aneinander. 

Auf einer ausgedehnten Werbetour priesen die findigen Brüder ihre Erfindung in ganz Europa an – mit Erfolg. Zahlreiche Betreiber von Gasthäusern, Hotels und Variétés witterten den kommerziellen Erfolg, der in den neuen Apparaten steckte, und kauften ihnen Kinematografen für Vorstellungen in ihren eigenen Etablissements ab. Auf diese Weise gelangte das neue Unterhaltungsmedium Kino auch nach Deutschland. 

Am 1. November 1895 wurde das Variété-Theater „Wintergarten“ in Berlin-Mitte durch eine Filmvorführung der geschäftstüchtigen Brüder Max und Emil Skladanowsky zum weltweit ersten kommerziellen Filmtheater. Auch die Skladanowskys hatten an einem Filmapparat getüftelt. Im Juli 1895 zeigten sie im Pankower „Feldschlösschen“ erstmals kurze Szenen, die sie im Garten des Lokals aufgenommen hatten. 

Patent für Skladanowsky

Ihre Geräte wurden auch für Vorführungen in Schaubuden und Panoptiken eingekauft. Jedoch blieb der Verkaufserfolg hinter dem der französischen Konkurrenz zurück. Immerhin bekam Max Sklada-nowsky vom Kaiserlichen Patentamt das Patent für eine „Vorrichtung zum intermittierenden Vorwärtsbewegen des Bildbandes für photographische Serien“ zugesprochen.

Mit dem Optiker Oskar Eduard Messter hat Deutschland einen weiteren Kino-Pionier vorzuweisen. 1896 brachte er die ersten Filmprojektoren zur Markt-reife und eröffnete in Berlin zwei „Kunstlichtateliers“. Indem er Projektor und Grammophon zum „Biophon“ verband, gelangen ihm 1903 erste „Tonbilder“. Messter avancierte in den Folgejahren mit über 300 Streifen zu einem der einflussreichsten deutschen Filmproduzenten.

In größeren Städten wurden viele Theater und Variétés um 1900 dauerhaft zu Kinosälen umgestaltet. Auf dem Land machten Wanderkinos die Bewohner mit dem neuen Me-dium Film vertraut, indem sie ihre Apparate für einige Tage in den Hinterzimmern von Gasthöfen aufbauten. Auch die Besitzer von Schaubuden und Panoptiken gingen mit der Zeit und ersetzten die üblichen Kuriositäten bald durch finanziell ertragreichere Filmvorführungen. 

Deren Beliebtheit erreichte mit dem Sieg des Tonfilms Ende der 1920er Jahre einen vorläufigen Höhepunkt. Bis das Lichttonverfahren erfunden wurde, die gleichzeitige Speicherung von Bild- und Tonspur auf dem Filmstreifen, hatte die Synchronisation von Bild und Ton noch zu Problemen geführt: Während der Vorführung lief eine Schallplatte ab, die die entsprechenden Sprach- und Musikpassagen des Films enthielt.

Nur langsam wurde das Fernsehen zum Konkurrenten des Kinos. Als es in den 1960er Jahren die Wohnzimmer endgültig eroberte, gingen die Zuschauerzahlen in den Kinos stetig zurück. Heute hat der TV-Riesenbildschirm mit optimaler Tonqualität für viele der Leinwand den Rang abgelaufen. Alteingesessene und traditionsreiche Lichtspieltheater mussten sich verkleinern oder ganz schließen. 

Heute ist der Markt aufgeteilt: Gewaltige Multiplex-Kinos haben mit Blockbustern und neuester 3D- und DTS-Technik vor allem den kommerziellen Erfolg im Auge. Kleine Programmkinos bedienen dagegen ein Nischenpublikum mit künstlerischen Filmen. Sie sind es vor allem, die die Erinnerung an die Pionierzeiten des Kinos wachhalten. 

Sabine Göttel/Olaf Neumann

22.05.2020 - Historisches , Jubiläum , Technik