Brasilien im Wandel

Bald mehrheitlich evangelikal?

Die Zahl der Katholiken in Brasilien nimmt seit rund 30 Jahren kontinuierlich ab, jene der Evangelikalen rasant zu. Wird also Brasilien, das größte katholische Land der Erde, schon bald mehrheitlich den Sekten und Freikirchen angehören? Statistiker prognostizieren, dass die Katholiken bereits in zwei Jahren weniger als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen könnten.

Die IBGE, die seit 1934 in Rio de Janeiro tätige nationale Geodaten- und Statistikbehörde Brasiliens, zeigt in ihren Statistiken an Hand ihrer Erhebungen klare Tendenzen, die auf einen weiteren Schwund der Katholiken hindeuten. Wenn in den nächsten zehn Jahren der seit drei Jahrzehnten zu verzeichnende Trend anhält, ist damit zu rechnen, dass es 2030 im Land mehr Evangelikale als Katholiken gibt.

Ein aktuelles Diagramm der Statistikbehörde, das die aktuelle Entwicklung bis in zehn Jahren verlängert, spricht eine deutliche Sprache. „Erstaunlich“ nennt der renommierte Demograf José Eustáquio Alves den Trend: „In nur drei Jahrzehnten hat die katholische Kirche ein 500-jähriges Monopol verloren.“ Ein Monopol, das am 26. April 1500, vier Tage nach der Landung der portugiesischen Entdecker auf brasilianischem Boden, begann. In Santa Cruz Cabrália zelebrierte damals Bischof Henrique de Coimbra die erste Heilige Messe auf brasilianischem Boden.

„Die katholische Kirche hat von Anfang an am Kolonialisierungsprojekt teilgenommen. Sie ist mit der Landesbevölkerung gewachsen, begünstigt sicher auch durch geringe soziale Mobilität und wenig aufklärerische Dynamik“, analysiert Alves. „Niemand weiß, ob die sich abzeichnenden Linien gerade weiterlaufen werden. Aber es sieht tatsächlich so aus, als ob die Evangelikalen in absehbarer Zeit in der Mehrheit sein würden.“

Gerade in den ärmsten, bildungsfernsten Schichten wachsen die freikirchlichen Pfingstgemeinden am kontinuierlichsten. Nicht zuletzt waren sie es, die den Versprechungen des rechtsradikalen Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro glaubten und ihm zum Sieg verhalfen. Die „Teologia da prosperidade“, die Wohlstands-Theologie der Evangelikalen – sie gefällt. 

Ihr zufolge ist materieller Wohlstand eine Gabe Gottes und durch festen Glauben zu erreichen. An Miseren und persönlichem Misserfolg sei der Teufel schuld. Durch Heiligungsrituale ließe sich dieser jedoch austreiben. Allerdings sei dafür ein größerer Geldbetrag an die Kirche fällig. Menschen in schwierigen Lebenslagen suchen offensichtlich solch einfache Heilsversprechungen, die oft auf sie persönlich zugeschnitten sind.

Kult des Individualismus

Ana Elisa Lobo, eine Informatikerin an der Uni von Campinas im Bundesstaat São Paulo, schätzt: „Ich glaube, der Aufstieg der evangelischen Kirchen erklärt sich aus dem neuen Kult um den Individualismus und aus der extremen Gewichtung finanziellen Erfolgs in unserer Gesellschaft.“ 

Autorin Luciana Guerra Malta aus Rio sieht die Verantwortung auch bei der katholischen Kirche: „Ich glaube, der gegenwärtig größte Fehler ist die Tendenz zu versuchen, die Evangelikalen nachzuahmen. Ich meine damit die Gottesdienste in katholisch-charismatischen Kirchen. Waren Heilige Messen einst eine Einladung zur Besinnung, so gibt es sie jetzt mit Choreografie, Klatschen und mit Priestern, die versuchen, Witze zu machen.“

Dass die Freikirchen weiter an Popularität gewinnen, liegt auch an prominenten Zugpferden: etwa dem brasilianischen Fußballstar und Nationalspieler Roberto Firmino, der deutschen Fans noch als Spieler des Bundesligisten TSG Hoffenheim bekannt ist. Firmino, seit 2015 beim englischen FC Liverpool unter Vertrag, konvertierte im Januar zu den Evangelikalen. Der Einfachheit halber ließ er sich gleich in Liverpool umtaufen – im eigenen Swimmingpool.

Karl Horat

05.02.2020 - Ausland , Glaubensleben , Hintergrund