Wilsons 14 Punkte

Blaupause einer neuen Ordnung

"Wir haben die Welt gerettet, und ich habe nicht vor, diese Europäer das jemals vergessen zu lassen!“ Mit diesem selbstbewussten Statement brachte Präsident Woodrow Wilson die neue Machtposition der USA unmittelbar nach Kriegsende 1918 auf den Punkt. Für wenige Monate genoss Wilson ein weltweites Ansehen, wie es keinem anderen US-Präsidenten davor oder danach zuteilwerden sollte. Als er im Dezember 1918 durch Europa reiste, wurde er überall von begeisterten Massen frenetisch als Friedensbringer gefeiert. 

Die revolutionären Grundsätze einer zukünftigen Friedensordnung hatte Wilson bereits am 8. Januar 1918 präsentiert und auf dem ganzen Globus gewaltige Erwartungen geweckt. Auf dem Weg zur Pariser Friedenskonferenz dämmerte ihm, dass er diese Hoffnungen wohl unmöglich erfüllen konnte. Gegenüber seinem Stab bekannte Wilson: „Was ich zu sehen meine – mit ganzem Herzen hoffe ich, mich zu irren –, ist eine Tragödie der Enttäuschungen.“ 

Aufstieg zur Weltmacht

Nach dem Kriegseintritt an der Seite der ausgebluteten und kriegsmüden europäischen Alliierten am 6. April 1917 waren die USA schnell zur militärischen, aber auch zur moralischen Führungsmacht aufgestiegen, was paradoxerweise ausgerechnet an Lenin lag: Nach der Oktoberrevolution hatten die Bolschewiki die Entente-Mächte bis auf die Knochen blamiert, indem sie deren Geheimabkommen mit dem Zaren inklusive imperialistischen Annexionszielen publizierten und die alliierte Kriegführung in eine dramatische Vertrauenskrise stürzten. Was konnte die Fortführung des Krieges jetzt noch rechtfertigen, was dem andauernden Blutvergießen einen Sinn geben? 

Eine Rückkehr zur traditionellen Großmächtepolitik, die durch Nationalismus und Militarismus den Krieg heraufbeschworen hatte, verbot sich für Wilson. Er berief in New York die „Inquiry“-Untersuchungskommission aus Historikern, Politikwissenschaftlern und Geografen zusammen, welche in streng geheimen Beratungen die politischen, ökonomischen und sozialen Gegebenheiten in allen Weltregionen umfassend analysieren sollten. Unter der Leitung von Wilsons Chefberatern Colonel Edward House und Walter Lippmann sollte das Expertengremium auch die alliierten Geheimabsprachen zerpflücken und identifizieren, was aus amerikanischer Sicht inakzeptabel war respektive wie weit man den Entente-Partnern entgegenkommen könne. 

Eine Fleißarbeit aus 2000 Berichten und 1200 Karten bildete die Basis für jenes Vierzehn-Punkte-Programm, welches Wilson am 8. Januar 1918 in einer Rede vor beiden Häusern des Kongresses der Welt vorstellte: in erster Linie als Durchhalteappell an die desillusionierten Soldaten und die Bewohner der verbündeten Länder. Aus US-Sicht wurde es zudem Zeit, dass das kapitalistische Amerika den Bolschewisten mit ihrer Weltrevolutionspropaganda den Wind aus den Segeln nahm. 

Folgende Grundprinzipien sollten fortan die internationale Politik prägen: das Verbot von Geheimdiplomatie, umfassende Abrüstung, Freiheit der Meere und des Handels, Entkolonialisierung sowie das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Letzteres befeuerte weltweit die ethnischen Autonomiebestrebungen und resultierte in der Auflösung des habsburgischen Vielvölkerstaates und des Osmanischen Reichs. Weiterhin forderte Wilson den deutschen Rückzug aus Belgien und Russland, die Rückgabe Elsass-Lothringens an Frankreich sowie die Gründung eines unabhängigen polnischen Staates mit Zugang zur See. 

Punkt Nummer 14 sah vor, die alten Allianzen durch einen Völkerbund als Garant von Frieden und Gerechtigkeit auch für die schwächsten Mitglieder zu ersetzen. Kerngedanke war die Errichtung eines „Systems kollektiver Sicherheit“, welches alle Mitglieder zur gemeinsamen Abwehr einer Aggression gegen die Unabhängigkeit oder territoriale Unversehrtheit eines Mitgliedsstaates verpflichtete. 

Als Vordenker jener Völkerbunds­idee gelten der holländische Völkerrechtler Hugo Grotius (1583 bis 1645) und Emmanuel Kant mit seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795). Als erster US-Präsident hatte bereits Theodore Roosevelt eine „Liga des Friedens“ gefordert. Nach Wilsons ursprünglichem Entwurf wäre sogar unethisches staatliches Verhalten wie Spionage oder Täuschungsmanöver geächtet worden. 

Völkerrecht als Basis

Mit seinen 14 Punkten stellte sich Wilson in eine Reihe mit Wa­shington und Jefferson: Auf die erste Amerikanische Revolution sollte nun eine von den USA vorangetriebene Revolutionierung der internationalen Ordnung folgen. Eine demokratische Weltinnenpolitik auf der Basis des Völkerrechts sollte die internationale Anarchie und das machtpolitische Nullsummenspiel der aristokratischen Geheimdiplomatie ersetzen. 

Wilsons Proklamation, welche auf US-Flugblättern auch über deutschen Schützengräben abgeworfen wurde, wurde zunächst von Wilhelm II. und der Obersten Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff weitgehend ignoriert. Sie träumten weiter von einem Sieg und einem Ostimperium durch die Okkupation Russlands. Erst als im Herbst 1918 der Bankrott der Monarchie und die deutsche Niederlage offenkundig waren, suchte die neue Regierung Max von Baden bei Wilson um Waffenstillstand nach. 

In naiver Realitätsflucht erwartete man in Deutschland den versprochenen milden „Wilsonfrieden“ ohne Sieger und Besiegte. Verdrängt wurde, dass nach dem deutschen Diktatfrieden von Brest-Litowsk ein empörter Wilson sein Friedensprogramm selbst verschärft hatte. Vor allem zeigte sich Wilson, der sich auf die Pariser Friedenskonferenz akribisch vorbereitet hatte und sie als Test seiner staatsmännischen Fähigkeiten und Erfüllung seiner historischen Mission ansah, der unnachgiebigen Verhandlungsführung seiner mit allen Wassern gewaschenen Verbündeten nicht gewachsen. 

Zwar blieben Frankreich und Großbritannien auf Gedeih und Verderb von der amerikanischen Wirtschaft abhängig und standen bei Wilson mit mehr Dollarmilliarden in der Kreide, als sie je würden zurückzahlen können – doch der neuen Weltmacht USA misstrauten sie zutiefst: Als Frankreichs nationalistischer Regierungschef Georges Clemenceau vom Vierzehn-Punkte-Programm hörte, kommentierte er Amerikas selbstherrliches Sendungsbewusstsein sarkastisch: „Sogar der liebe Gott hat sich mit nur zehn Geboten begnügt, aber dieser Wilson braucht vierzehn!“

In Paris setzte der entnervte Wilson alles daran, wenigstens so viel wie möglich von seinem Völkerbund zu retten. Er knickte vor den französischen Forderungen nach einer dauerhaften Schwächung Deutschlands ein in dem naiven Glauben, sein geliebter Völkerbund werde die Defizite der Friedensschlüsse nachträglich korrigieren können! So bekam denn Deutschland den ultraharten Versailler Vertrag inklusive Alleinschuldparagraph, schmerzhaften Gebietsabtretungen und Reparationslast diktiert – eine schwere Belastung der gerade in Wilsons Sinne geschaffenen Weimarer Demokratie und ein gefundenes Fressen für die Propaganda der erstarkenden Nazis. 

Doch nicht nur die Deutschen fühlten sich von Wilson betrogen: Millionen Kolonialsoldaten und Arbeitskräfte hatten für die Entente auf den europäischen Schlachtfeldern gekämpft, und es war ihnen nicht entgangen, wie geschwächt ihre europäischen Herren aus dem Weltkrieg hervorgegangen waren. Bereits Lenin und Trotzki hatten das globale Ende der Kolonialreiche versprochen. Aber es war Wilson, dem die Unterdrückten dies tatsächlich zutrauten, vor allem in Indien, im britisch kontrollierten Ägypten und im seit 1910 von Japan besetzten Korea. Doch auch hier verwandelten sich die Hoffnungen auf Amerika in bittere Enttäuschung. 

Am Ende sollte es jedoch der eigene Senat sein, der Wilson die größte Niederlage zufügte: Am 19. November 1919 verweigere er die notwendige Zweidrittelmehrheit für die Ratifizierung des Versailler Vertrags und des amerikanischen Beitritts zum Völkerbund. Der Demokrat Wilson versäumte es sträflich, die seit den Novemberwahlen 1918 im Senat dominierenden Republikaner in die Pariser Verhandlungen einzubeziehen. Hinzu kam, dass Wilson nach einem Schlaganfall vom September 1919 dienstunfähig wurde, aber im Amt blieb, wodurch de facto die First Lady im Weißen Haus regierte. 

Amerika zuerst

Für die Republikaner und unilateralistischen Realisten galt schon damals das „America first“-Prinzip: Ihnen war Wilsons Multilateralismus und die Vorstellung, dass US-Truppen weltweit für die Sicherheit anderer Staaten anstatt für nationale Interessen kämpfen müssten, ein Gräuel. Zudem widersprach in ihren Augen Wilsons System kollektiver Sicherheit dem alleinigen Vorrecht des Senats, im Namen der USA Krieg zu erklären. Ohne den Weltpolizisten USA war auch kein anderes Mitglied des 1920 gegründeten Völkerbundes bereit, sich energisch und notfalls militärisch für die Verteidigung der neuen Weltordnung einzusetzen. 

Das Abrüstungsgebot betraf primär Weltkriegsverlierer wie das Deutsche Reich, welches als Pariastaat erst 1926 dem Völkerbund beitreten durfte (1933 erklärte Hitler wieder den Austritt). Ab Mitte der 1920er Jahre spielte die „Liga der Nationen“ für kurze Zeit eine etwas prominentere Rolle. Als „Pilotprojekt“ konnte die Weltorganisation mit Sitz in Genf die Verbreitung völkerrechtlicher Standards forcieren, kleineren Staaten erstmals eine Stimme geben und auf Probleme wie Flüchtlingsströme oder Epidemien aufmerksam machen. 

Die erste schwere Niederlage erlitt der Völkerbund, als 1931/32 Japan ungestraft die chinesische Mandschurei annektieren konnte. Die im italienischen Abessinienkrieg gegen Mussolini verhängten Wirtschaftssanktionen erwiesen sich als zahnlos. Auch als 1936 der Spanische Bürgerkrieg ausbrach und als Japan 1937 seine Invasion Chinas noch ausweitete, blieben die Hilferufe an den Völkerbund folgenlos. Schon 1919 hatte Wilson in einer Rede vor dem Scheitern seines Völkerbundes gewarnt: „Ich kann mit absoluter Sicherheit vorhersagen, dass dann binnen einer Generation ein weiterer Weltkrieg ausbrechen wird.“ Exakt 20 Jahre später bestätigte die Geschichte diese Prophezeiung. 

Bereits ab Mitte 1941 wurden in London und Washington neue Ideen entwickelt, nach einem Sieg der Alliierten den Völkerbund durch eine weit effektivere Weltorganisation zu ersetzen. Analog zu Wilsons Schlaganfall schien der Tod von Präsident Franklin D. Roosevelt das Projekt Vereinte Nationen wieder ernsthaft zu gefährden. Im Gegensatz zum einstmaligen Princeton-Professor Wilson mit seinem nicht selten nai­ven Idealismus waren die Autoren der am 25. Juni 1945 im Opernhaus von San Francisco verabschiedeten UN-Charta kriegserprobte Realpolitiker: Ihnen waren die potentiellen Schwächen des UN-Systems, welches als bestmöglicher Kompromiss aus heftigen Debatten hervorgegangen war, bewusst. So wurde etwa das Vetorecht für die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats von Stalin durchgesetzt. Schwächere Staaten wie Australien scheiterten mit dem Versuch, jenes Blockadeinstrument abzuschwächen, welches nicht nur während des Kalten Krieges die Uno lähmen sollte. 

Unerfüllte Hoffnungen

Heute ist vor allem die Befugnis des Sicherheitsrates, nach Kapitel VII Ermächtigungen zu militärischem Eingreifen auszusprechen, von zentraler Bedeutung. 2005/06 proklamierten die Vereinten Nationen eine völkerrechtliche „Schutzverantwortung“ zur Intervention bei schwersten Menschenrechtsverletzungen, quasi eine Weltinnenpolitik 2.0. Doch wie sich in Syrien, im Jemen und angesichts des IS-Terrors im Irak zeigte, konnte einmal mehr die Weltgemeinschaft jenen Hoffnungen nicht gerecht werden. 

Auch müsste die antiquierte Zusammensetzung des Sicherheitsrats längst den heutigen Machtverhältnissen angepasst werden. Jüngst hat Präsident Trump in der Jerusalem-Frage versucht, die Uno in beispielloser Weise zu erpressen. Die Problematik der Freiheit der Meere aus Wilsons Vierzehn Punkten ist aktueller denn je angesichts der brandgefährlichen Konfrontation zwischen der Seemacht USA und China, welches große Teile des Südchinesischen Meeres für sich beansprucht und dort künstliche Inseln anlegt. Und während einst der Wilsonschen Weltordnung durch den Aufstieg von Faschismus und Kommunismus die Demokraten abhandenkamen, erscheint auch heute in vielen Weltregionen die Demokratie westlich-liberaler Prägung als politisches Auslaufmodell. 

Michael Schmid

06.01.2018 - Historisches