Vor 150 Jahren

Das Dogma der Unfehlbarkeit

Vor 150 Jahren erklärte die Kirche den Primat des Papstes zum Dogma. Die Entscheidung des Ersten Vatikanischen Konzils war sehr umstritten, doch ging das Papstamt daraus gestärkt hervor. Erst das Zweite Vatikanum ergänzte den Primat durch die Lehre von der Kollegialität der Bischöfe. 

Schon vor dem Konzil 1869/70 hatten sich innerkirchliche Spannungen zugespitzt, als publik wurde, dass bei der Kirchenversammlung die Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubens- und Sittenfragen als Dogma verkündet werden solle. Man hatte die Sorge, die Kirchenleitung verschließe sich den geistigen Strömungen der Epoche. Papst Pius IX. (1846 bis 1878) hatte seine Amtszeit mit einer vergleichsweise liberalen Politik begonnen. Dann aber grenzte er sich zunehmend von „der Welt“ ab. 1864 fasste er alle abweichenden Meinungen im sogenannten Syllabus errorum als „Irrtümer“ der modernen Zeit zusammen und verurteilte sie pauschal.

Tür und Tor für Missbrauch?

Das Konzil, das im Dezember 1869 eröffnet wurde, war die bis dahin größte Kirchenversammlung. 774 Kardinäle und Bischöfe der Weltkirche nahmen teil. Von Beginn an wurde über den Papstprimat beraten: also über den Papst als höchste Rechtsgewalt, ausgestattet mit höchster Lehrvollmacht, sofern er Entscheidungen zu Lehr- und Moralfragen „ex cathedra“ als unfehlbar verkündet. In der Debatte äußerte eine unüberhörbare Minderheit Bedenken gegen die neuen Dogmen, darunter 15 der 20 deutschen Bischöfe. Eine solche Definition würde dem Missbrauch des kirchlichen Lehramts Tür und Tor öffnen, befürchteten sie.

In der Vorbereitungssitzung stimmten von 601 anwesenden Konzilsvätern 451 mit Ja, 88 mit Nein; 62 verlangten Änderungen. Ein letzter Vermittlungsversuch der Kritiker bei Pius IX. scheiterte. Schließlich reisten 57 von ihnen vorzeitig ab, um nicht in Anwesenheit des Papstes gegen sein Vorhaben stimmen zu müssen. So erhielt die Konstitution „Pastor aeternus“ bei der Verabschiedung am 18. Juli 1870, vor 150 Jahren, lediglich zwei Gegenstimmen.

Bei Kerzenschein verlesen

Während der Sitzung ging ein Unwetter über Rom nieder. In der Basilika war es mitten am Tag so dunkel, dass der Text der Konstitution nur mit Hilfe von Kerzenleuchtern verlesen werden konnte. Tags darauf, am 19. Juli 1870, begann der Deutsch-Französische Krieg. Die meisten Bischöfe reisten ab, das Konzil wurde unterbrochen. Napoleon III. zog seine zum Schutz des Papstes in Rom stationierten Truppen ab. Mitte September wurde die Stadt von den piemontesischen Truppen eingenommen; der Kirchenstaat hörte auf zu bestehen. Schließlich vertagte Pius IX. das Konzil auf unbestimmte Zeit.

Stärkung des Papsttums, Abkehr der Intellektuellen

Einer nach dem anderen akzeptierten auch die kritischen deutschen Bischöfe die Entscheidung des Konzils. Trotz des gleichzeitigen Verlusts seiner weltlichen Macht ging das Papsttum gestärkt aus dem Konzil hervor. Rom wurde mehr und mehr zum Ankerpunkt der Weltkirche. Der Entscheidung zugunsten der päpstlichen Unfehlbarkeit folgte aber auch eine Abkehr vieler Intellektueller von der Kirche. Aus dieser Protesthaltung entstand im deutschsprachigen Raum die von Rom abgelöste Altkatholische Kirche. 

"Bürde und Chance"

Von einer Ex-cathedra-Entscheidung hat jedoch seither nur ein Papst Gebrauch gemacht: Pius XII. verkündete 1950 das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel. Heute sieht der Wiener Dogmatik-Professor Jan-Heiner Tück im Primat des Papstes zugleich Bürde und Chance für die Kirche. Es brauche eine Balance zwischen einer auf den Papst zugeschnittenen „hierarchischen Sicht von Kirche“ und einer Kollegialität der Bischöfe, schrieb Tück 2019 in der „Neuen Zürcher Zeitung“. Erst das Zweite Vatikanum (1962 bis 1965) habe die Primats-Aussagen des Ersten durch die Lehre von der Kollegialität der Bischöfe ergänzt, erklärt der Theologe. 

Für Orthodoxe und Protestanten bleibt das katholische Papstamt der bedeutendste Stolperstein der Ökumene. Jedoch hat die katholische Kirche mit dem Papstprimat nach Ansicht Tücks über Länder und Nationen hinweg einen Garanten der Einheit.

Alexander Brüggemann/Johannes Schidelko

17.07.2020 - Historisches , Papst , Vatikan